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20 Kilometer täglich in der Wildnis – wie viel Bewegung brauchen unsere Hauspferde wirklich?

Das Wichtigste in Kürze:

  • Pferde sind biologisch auf kontinuierliche, moderate Bewegung programmiert – 16-20 Stunden täglich in der freien Wildnis
  • Bewegungsmangel führt zu gravierenden Gesundheitsproblemen: Kreislaufschwäche, Verdauungsstörungen, Muskelabbau und Gelenkversteifung
  • Der Pferdekörper funktioniert wie eine „Bewegungsmaschine“ – von der Blutzirkulation bis zur Hufgesundheit hängt alles von Aktivität ab
  • Moderne Haltungsformen müssen mindestens 12 Stunden freie Bewegung täglich ermöglichen
  • Auch die Psyche leidet unter Bewegungseinschränkung: Langeweile, Frustration und Verhaltensstörungen sind die Folge
  • Qualität der Bewegung ist entscheidender als Quantität – natürliche, selbstbestimmte Aktivität wirkt anders als forciertes Training

Der Bewegungsapparat des Pferdes: Konstruiert für permanente Aktivität

Das Pferd ist ein Meisterwerk der Evolution – optimiert für ausdauernde Fortbewegung über weite Strecken. Jeder Aspekt der Anatomie ist darauf ausgelegt, in Bewegung zu sein. Diese biologische Programmierung lässt sich nicht einfach abschalten, nur weil das Pferd heute im Stall steht statt in der Steppe zu wandern.

Das Herz-Kreislauf-System als Hochleistungsmotor

Das Pferdeherz ist proportional größer als das der meisten anderen Säugetiere und kann bis zu 240 Liter Blut pro Minute pumpen. Doch dieses Hochleistungssystem braucht regelmäßige „Wartung“ durch Bewegung. Nur durch kontinuierliche Aktivität bleiben die Blutgefäße elastisch, der Herzmuskel trainiert und die Durchblutung aller Organe optimal.

Bei Bewegungsmangel verschlechtert sich die Herzleistung. Studien zeigen, dass bereits nach wenigen Wochen ohne ausreichende Bewegung die Pumpleistung des Herzens um bis zu 20% abnimmt. Das Resultat: Kreislaufschwäche, schnelle Ermüdung und eine generell schlechtere Belastbarkeit. Anstatt also immer nach dem Wunderzusatzfutter zu suchen, welches die Leistungsbereitschaft des Pferdes steigert, sollte man sich zunächst mal anschauen, wie viel und wie lange sich das Pferd pro Tag überhaupt bewegt. Steht das Pferd 23 Stunden am Tag in der Box oder auf einem „Stehpaddock“, muss man sich nicht wundern, wenn unter dem Sattel die Leistung ausbleibt.

Muskeln: Gebraucht oder verloren

Die Muskulatur des Pferdes ist auf zwei Arten von Bewegung spezialisiert: Ausdauernde, moderate Aktivität für die täglichen Wanderungen und explosive Kraftentfaltung für Fluchtreaktionen. Beide Systeme brauchen regelmäßiges Training, um funktionsfähig zu bleiben. Als Pferdebesitzer wollen wir gerne „Muskeln hinfüttern“ an unsere Pferde – und vergessen dabei, dass Muskeln nur dann aufgebaut werden und erhalten bleiben, wenn sie auch benutzt werden.

Ohne ausreichende Bewegung beginnt der Muskelabbau bereits nach 72 Stunden. Besonders betroffen sind die Halte- und Stützmuskulatur, die für eine gesunde Körperhaltung essentiell ist. Die Folgen reichen von Rückenproblemen über unspezifische Taktunklarheiten und Lahmheiten bis hin zu einem veränderten Gangbild.

Warum Boxenruhe oft mehr schadet als nützt

Früher war absolute Ruhe bei Verletzungen Standard – vergleichbar mit der „Bettruhe“ für verletzte Menschen. Heute weiß man: Dosierte Bewegung fördert oft die Heilung. Der Grund liegt in der besonderen Durchblutung des Pferdebeins: Die Hufe fungieren als zusätzliche „Herzen“, die bei jedem Schritt Blut nach oben pumpen. Ohne diese Bewegung staut sich das Blut, Schwellungen entstehen und die Heilung verzögert sich. Moderne Veterinärmedizin setzt daher auf „kontrollierte Bewegung“ statt auf komplette Ruhigstellung. Ein strukturierter, großzügiger Krankenpaddock trägt mehr zur Heilung bei als die schönste Box.

Die Verdauung: Ein System in Bewegung

Das Verdauungssystem des Pferdes ist ein Wunderwerk der Natur, aber nur in Bewegung funktioniert es optimal. Der über 30 Meter lange Darmtrakt ist darauf angewiesen, dass sein Inhalt durch die natürlichen Körperbewegungen des Pferdes kontinuierlich durchmischt und weitertransportiert wird.

Peristaltik braucht Unterstützung

Die Darmbewegungen (Peristaltik) werden durch die Bewegung des gesamten Körpers unterstützt. Jeder Schritt massiert die Bauchorgane und fördert den Transport des Futterbreis. Bei stehenden Pferden verlangsamt sich dieser Prozess erheblich – mit weitreichenden Folgen.

Bewegungsmangel ist einer der Hauptrisikofaktoren für Koliken. Wenn der Darminhalt nicht ausreichend bewegt wird, können Verstopfungen, Gasansammlungen oder sogar Darmverschlingungen entstehen. Statistiken zeigen: Pferde in Boxenhaltung ohne ausreichenden Auslauf haben ein dreifach höheres Kolikrisiko als ihre Artgenossen in Bewegungshaltung.

Der Stoffwechsel gerät aus dem Takt

Auch der Stoffwechsel ist auf regelmäßige Bewegung angewiesen. Insulin wird besser verwertet, der Blutzuckerspiegel reguliert sich natürlicher, und die Entgiftungsfunktionen von Leber und Nieren arbeiten effizienter. Bewegungsarme Pferde neigen daher häufiger zu Stoffwechselerkrankungen wie Hufrehe oder dem Equinen Metabolischen Syndrom als solche mit viel Bewegung – sowohl die freiwillige Bewegung durch einen gut strukturierten Auslauf als auch durch gezieltes Training.

Ohne Huf kein Pferd

Die Hufe sind weit mehr als nur „Schuhe“ für das Pferd. Sie sind komplexe, durchblutete Organe mit wichtigen Funktionen für die Gesundheit des gesamten Körpers.

Der Hufmechanismus als Blutpumpe

Bei jedem Auftreten weitet sich der Huf minimal aus und zieht sich beim Abheben wieder zusammen. Dieser „Hufmechanismus“ pumpt Blut aus den Beinen zurück zum Herzen – eine Art zweites Herz-Kreislaufsystem. Ohne regelmäßige Belastung funktioniert diese Pumpe nicht, die Durchblutung der Hufe verschlechtert sich dramatisch.

Die Folgen sind gravierend:

  • Schwächung des Hufhorns
  • Schlechtere Heilung bei Verletzungen
  • Erhöhtes Risiko für Huflederhautentzündungen / Hufrehe
  • Anfälligkeit für Strahlfäule und andere Hufkrankheiten

Bewegung ist die beste Hufpflege – kein Huffett kann ersetzen, was ein aktiver Hufmechanismus leisten kann.

Laufen wie geschmiert

Die Gelenke des Pferdes sind auf das gleiche „Schmierprinzip“ angewiesen wie ein gut geölter Motor: Nur durch Bewegung wird die Gelenkflüssigkeit (Synovia) produziert und verteilt. Diese „Gelenkschmiere“ nährt den Knorpel und hält ihn elastisch.

Stehende Pferde entwickeln schnell steife Gelenke, da die Produktion von Gelenkflüssigkeit abnimmt. Der Knorpel wird schlechter versorgt, nutzt sich schneller ab: Arthrose kann entstehen. Paradoxerweise hilft oft mehr Bewegung gegen Gelenkprobleme – natürlich in angemessenem Rahmen.

Pferd läuft bockend auf Weide
Wer rastet, der rostet © Adobe Stock / Sonja E.

Bewegung als Antidepressivum

Bewegung ist nicht nur körperlich, sondern auch psychisch essentiell für Pferde. In der freien Natur bewegen sie sich nicht nur zur Futtersuche, sondern auch aus Neugier, beim Spiel oder einfach aus Lebensfreude. Pferde sind von Natur aus Lauftiere und ein Pferd, das sich nicht mehr gerne bewegt, ist meist schon krank – auch wenn wir es ihm noch nicht ansehen.

Langeweile macht krank

Eingesperrte Pferde ohne ausreichende Bewegungsmöglichkeiten entwickeln häufig Verhaltensstörungen. Die bekanntesten Stereotypien wie Weben, Koppen oder Boxenlaufen sind oft direkte Folgen von Bewegungsmangel und der damit verbundenen Frustration.

Diese Verhaltensweisen sind mehr als nur „schlechte Angewohnheiten“ – sie zeigen, dass das Pferd unter seiner Situation leidet. Studien belegen, dass Pferde mit mehr Bewegungsfreiheit ausgeglichener, lernfähiger und umgänglicher sind.

Stress durch Einschränkung

Die Unfähigkeit, natürliche Verhaltensweisen auszuleben, führt zu chronischem Stress. Erhöhte Cortisolwerte schwächen das Immunsystem, beeinträchtigen die Verdauung und können sogar zu Magengeschwüren führen. Bewegungsfreiheit ist daher auch eine Form der Stresstherapie.

Mindestanforderungen vs. Optimum

Wie viel Bewegung braucht ein Pferd nun wirklich? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig, auch wenn sie für manche Halter unbequem sein mögen:

Das absolute Minimum

Experten sind sich einig: Mindestens 12 Stunden freie Bewegung täglich sollten möglich sein. Dabei ist wichtig, dass das Pferd selbst entscheiden kann, wann und wie viel es sich bewegt. Erzwungene Bewegung durch Führanlagen, Spazierengehen oder Longieren kann die freie Bewegung ergänzen, aber nicht ersetzen.

Das natürliche Optimum

Ideal wären 16-20 Stunden täglich verfügbare Bewegungsmöglichkeiten, wie sie in naturnahen Haltungsformen gegeben sind. Das bedeutet nicht, dass das Pferd ständig herumgaloppiert – die meiste Zeit bewegt es sich in gemächlichem Schritt, so wie es auch in freier Natur der Fall wäre.

Qualität vor Quantität

Entscheidend ist nicht nur die Dauer, sondern auch die Art der Bewegung:

  • Selbstbestimmt: Das Pferd entscheidet, wann und wie es sich bewegt
  • Abwechslungsreich: Verschiedene Untergründe und Steigungen trainieren unterschiedliche Muskeln und die Balance
  • Sozial: Bewegung zusammen mit anderen Pferden ist immer schöner als alleine
  • Zweckfrei: Nicht jede Bewegung muss einem Training dienen, manchmal schlendern Pferde auch einfach nur gerne herum

Haltungssysteme im Bewegungscheck

Verschiedene Haltungsformen bieten unterschiedliche Bewegungsmöglichkeiten:

  • Paddock Trail: Optimal, da Bewegung durch die Weggestaltung gefördert wird
  • Offenstall/Aktivstall: Sehr gut, da rund um die Uhr Bewegung möglich ist
  • Weidegang: Gut, aber oft nur saisonal möglich
  • Paddockbox: Befriedigend, wenn der Paddock groß genug ist
  • Box mit Auslauf: Akzeptabel, wenn der Auslauf mindestens 12 Stunden täglich zur Verfügung steht
  • Reine Boxenhaltung: Unzureichend und tierschutzrelevant

Bewegung ist Leben

Bewegung ist für Pferde kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis, genauso wie Futter und Wasser. Wer einem Pferd Bewegungsfreiheit vorenthält, entzieht ihm einen wesentlichen Teil seiner Lebensqualität und riskiert ernsthafte Gesundheitsprobleme.

Die gute Nachricht: Viele Bewegungsprobleme lassen sich durch durchdachte Haltungskonzepte lösen. Es braucht nicht immer riesige Flächen – oft reichen schon kleine Verbesserungen, um einem Pferd mehr Bewegung zu ermöglichen. Die Investition in bewegungsfreundliche Haltungssysteme zahlt sich langfristig aus: durch gesündere, ausgeglichenere Pferde und niedrigere Tierarztkosten.

Denn eines ist sicher: Ein Pferd, das sich frei bewegen kann, ist nicht nur körperlich, sondern auch geistig ein anderes Tier – eines, das seiner Natur entsprechend leben darf.

Team Sanoanimal