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Vom Dauerfresser zum Mahlzeitentier – wie wir das natürliche Fressverhalten unserer Pferde völlig umgekrempelt haben

Das Wichtigste in Kürze:

  • Pferde sind von Natur aus Dauerfresser und nehmen 16-18 Stunden täglich kleine Futtermengen auf
  • Der kleine Magen (8-15 Liter) und das empfindliche Verdauungssystem sind auf kontinuierliche Rohfaserzufuhr angewiesen
  • Erzwungene Fresspausen sind unnatürlich und führen zu Magenproblemen, Stress und Verhaltensstörungen
  • Moderne Fütterungsgewohnheiten mit 2-3 großen Mahlzeiten widersprechen der Pferdenatur fundamental
  • Raufutter mit hohem Rohfasergehalt ist der wichtigste Nährstoff und hält Pferde gesund
  • Kraftfutter sollte hingegen immer streng angepasst an die Trainingsleistung gegeben werden, wenn die Energieversorgung aus Raufutter nicht ausreicht
  • Die Art der Futteraufnahme beeinflusst Zähne, Speichelproduktion und die gesamte Magen-Darm-Gesundheit

Das Verdauungssystem: Ein Wunderwerk für Rohfaserverdauung

Um das Fressverhalten von Pferden zu verstehen, müssen wir einen Blick in ihr Inneres werfen. Das Verdauungssystem ist ein hochspezialisierter Apparat, der über Millionen von Jahren perfekt auf die Verwertung von energiearmen Steppengräsern und -kräutern optimiert wurde.

Der kleine Magen – große Probleme bei falscher Fütterung

Mit nur 8-15 Litern Fassungsvermögen ist der Pferdemagen überraschend klein – etwa so groß wie ein normaler Kücheneimer. Diese geringe Größe ist kein Konstruktionsfehler der Natur, sondern perfekt an die kontinuierliche Aufnahme kleiner Futtermengen angepasst.

In der Wildnis nimmt ein Pferd alle paar Minuten einen Bissen zu sich. Der Magen ist dadurch nie völlig leer, aber auch nie überfüllt. Diese kontinuierliche Befüllung hat wichtige Funktionen:

  • Magensäurepufferung: Speichel und faserreiches Futter neutralisieren die ständig produzierte Magensäure
  • Optimale Verdauung: Kleine Futtermengen werden gründlicher aufgeschlossen
  • Stressreduktion: Ein leerer Magen löst bei Pferden Unbehagen und Stressreaktionen aus

Der Dickdarm als Hauptverdauungsorgan

Während bei Menschen der Dünndarm die Hauptarbeit leistet, findet bei Pferden etwa 70% der Verdauung im Dickdarm statt. Hier leben Milliarden von Mikroorganismen, die die schwer verwertbare Rohfaser aufschließen und in verwertbare Nährstoffe umwandeln.

Diese Darmbakterien sind hochspezialisiert und reagieren extrem empfindlich auf Futterumstellungen. Schon kleine Änderungen in der Futterkomposition oder im Fütterungsmanagement können das Gleichgewicht stören und zu Verdauungsproblemen führen.

Der Kauapparat als Präzisionswerkzeug Pferdezähne schieben sich lebenslang um etwa 3mm pro Jahr aus dem Kiefer heraus – eine Anpassung an das ständige Kauen harter Gräser, welche die Oberfläche der Zähne abnutzen. Die typische Kaubewegung ist nicht nur auf und ab, sondern vor allem seitlich mahlend. Ohne ausreichende Kautätigkeit durch rohfaserreiches Futter nutzen sich die Zähne ungleichmäßig ab, scharfe Kanten entstehen, und Zahnprobleme sind programmiert. Kraftfutter hingegen erfordert kaum Kauarbeit und fördert diese natürliche Zahnabnutzung nicht – vermehrte Zahnprobleme und notwendige Korrekturen sind die Folge.

Die 18-Stunden-Regel

Wildpferde verbringen 16-18 Stunden ihres Tages mit der Futteraufnahme. Das klingt extrem, ist aber evolutionär sinnvoll: Gras enthält wenig Energie und viel schwer verdauliche Rohfaser. Um den Energiebedarf zu decken, müssen entsprechend große Mengen aufgenommen werden.

Dieses Verhalten ist so tief programmiert, dass es sich auch bei gut genährten Hauspferden zeigt. Ein Pferd, das nicht fressen kann, zeigt Unruhe, Stress und oft auch Verhaltensstörungen. Fütterungspausen sind für Pferde daher nicht „entspannend“, sondern belastend. Natürlich machen Pferde, die ständig Heu zur freien Verfügung haben, auch mal Pausen – sie dösen oder schlafen, betreiben Fellpflege oder schauen einfach in die Gegend. Aber diese freiwillig eingelegten Pausen sind nicht zu vergleichen mit erzwungenen Pausen, wie sie durch Mahlzeitenfütterung oder Futterautomaten entstehen. Letztere sorgen immer für Stress und damit gesundheitliche Probleme bei den Pferden.

Kleine Mengen, große Wirkung

Pro Bissen nimmt ein Pferd nur etwa 20-30 Gramm Futter auf – ungefähr so viel wie in eine Hand passt. Diese kleinen Mengen werden gründlich gekaut (30-40 Kaubewegungen pro Bissen) und erst dann geschluckt.

Dieser langsame Prozess hat mehrere Vorteile:

  • Optimale Einspeichelung des Futters
  • Intensive mechanische Zerkleinerung für später optimale Verwertung
  • Frühe Sättigung verhindert Überfressen (Kauschläge tragen zum Sättigungsgefühl bei)
  • Beschäftigung und Entspannung für das Pferd
Pferd an einer Raufe mit Heu
Gutes Heu deckt bei vielen Pferden bereits 90-100% des Nährstoffbedarfs © Adobe Stock / pimmimemom

Wenn Fütterung zum Stressfaktor wird

Unsere modernen Fütterungsgewohnheiten stehen im krassen Gegensatz zum natürlichen Fressverhalten. Die Folgen sind gravierender, als viele Halter ahnen.

Das Mahlzeiten-Dilemma

Zwei bis drei große Mahlzeiten täglich sind für Menschen praktisch, für Pferde aber problematisch. Zwischen den Mahlzeiten entstehen Fütterungspausen von teilweise 6-8 Stunden oder mehr – für ein Pferd eine Ewigkeit.

In diesen Pausen passiert folgendes:

  • Der Magen produziert weiter Säure, obwohl kein Futter da ist
  • Magenschleimhaut und -wand werden angegriffen
  • Stress und Unruhe entstehen, weil das Pferd Angst bekommt, zu verhungern
  • Das Pferd entwickelt „Fütterungsaggression“ und schlingt bei der nächsten Mahlzeit

Ein Pferd, das gierig frisst, ist meist ein hungriges Pferd – hungrig nach kontinuierlicher Kau-Beschäftigung, nicht nach mehr Kalorien.

Magengeschwüre durch Fütterungsfehler

Studien zeigen erschreckende Zahlen: 60-90% aller Sportpferde und etwa 40-50% der Freizeitpferde leiden unter Magengeschwüren. Eine der Hauptursachen sind Fütterungspausen.

Die Magensäure, die normalerweise durch ständige Futteraufnahme gepuffert wird, greift bei leerem Magen die Schleimhaut an. Besonders problematisch wird es, wenn nach langen Pausen große Kraftfuttermengen gegeben werden – diese fördern die Säureproduktion zusätzlich. Auch der Stress, der durch die erzwungenen Raufutterpausen entsteht, trägt zum Entstehen von Magengeschwüren bei. Die beste Therapie und auch Prophylaxe bei Magengeschwüren ist also der ständige Zugang zu Raufutter.

Kraftfutter: Fluch oder Segen?

Kraftfutter hat in der Pferdefütterung im Hochleistungssport eine wichtige Rolle, wird aber oft falsch eingesetzt, vor allem im Amateursport und bei Freizeitpferden. Die Natur hat Pferde nicht für konzentrierte Energiequellen konstruiert.

Kleine Portionen, mehrere Gaben

Wenn Kraftfutter überhaupt gefüttert wird, dann in kleinen Portionen über den Tag verteilt. Als Faustregel gilt: Maximal 0,1 kg Kraftfutter pro 100 kg Körpergewicht und Mahlzeit. Bei einem 500 kg schweren Pferd also höchstens 500 g auf einmal. Studien mit Futterautomaten zeigen, dass die Verwertung des Kraftfutters umso besser ist, je kleiner die Mahlzeiten. Eine 500 g Portion auf viele kleine 50g Mahlzeiten verteilt wird noch besser verwertet als die 500 g in einer Mahlzeit – aber nicht jeder hat die Zeit, alle halbe Stunde in den Stall zu laufen und 50g Futter zu geben.

Größere Kraftfuttermengen überfordern schnell die Verdauung und können zu gefährlichen Störungen der Darmflora führen. Im schlimmsten Fall entstehen Koliken oder Hufrehe durch die Überlastung mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten.

Raufutter: Der unterschätzte Hauptnährstoff

Während Kraftfutter oft im Mittelpunkt der Diskussion um die optimale Fütterung eines Pferdes steht, ist Raufutter der eigentlich wichtigste Bestandteil der Pferdefütterung. Es liefert nicht nur genug Energie für fast alle Pferde sowie lebensnotwendige Nährstoffe, sondern erfüllt auch wichtige Funktionen für die Gesundheit.

Heu: Der Allrounder

Gutes Heu deckt bei vielen Pferden bereits 90-100% des Nährstoffbedarfs. Es liefert Energie, Eiweiß, Vitamine und Mineralstoffe – und das in einer Form, die das Verdauungssystem optimal verwerten kann.

Die Qualität des Heus ist entscheidend:

  • Schnittzeitpunkt: Ein später erster Schnitt ist reich an Cellulose, dem wichtigsten Energielieferant
  • Trocknung: Schonende Warmlufttrocknung erhält Nährstoffe, bei Sonnentrocknung auf der Wiese gehen viele Vitamine, Mineralien und Aminosäuren verloren
  • Lagerung: Trocken, vor Sonne geschützt und staubfrei gelagert bleiben Nährstoffe lange erhalten
  • Zusammensetzung: Kräuterreiche Wiesen sind wertvoller als reine Grasbestände

Stroh ist mehr als nur Einstreu

Stroh wird oft unterschätzt, ist aber ein wertvolles Raufutter für viele Pferde. Es hat wenig Energie, dafür viel Rohfaser in Form von Lignin („Holzfaser“), die praktisch unverdaulich ist. Aber das Kauen oder Aussortieren von Stroh beschäftigt die Pferde lange und verlangsamt damit die Futteraufnahme. Für leichtfuttrige oder diätbedürftige Pferde ist die Mischung von Heu mit Stroh meist eine wertvolle Möglichkeit, die Fresszeiten zu verlängern, ohne dass zu viele Kalorien aufgenommen werden oder unerwünschte Fresspausen entstehen. Auch iberische Pferde schätzen die Strohfütterung, da ihr Verdauungstrakt durch die Aufzucht in Spanien auf einen höheren Ligninanteil optimiert ist.

Team Sanoanimal