Vom offenen Prärie-Überblick bis zum wettergeschützten Unterstand – wie Sicherheitsbedürfnisse die Stallplanung bestimmen sollten
Das Wichtigste in Kürze:
- Pferde haben als ehemalige Beutetiere ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Fluchtmöglichkeiten
- Witterungsschutz ist essentiell, aber nicht jedes Pferd braucht vier Wände – oft reicht ein offener Unterstand
- Freie Sichtfelder und mehrere Ausgänge reduzieren Stress und aktivieren nicht ständig den Fluchtinstinkt
- Die Positionierung von Schutzräumen ist entscheidender als ihre Größe oder Ausstattung
- Soziale Sicherheit durch die Herde ist oft wichtiger als baulicher Schutz
- Moderne Stallarchitektur kann Sicherheitsbedürfnisse erfüllen, ohne die Bewegungsfreiheit einzuschränken
Schutz vs. Fluchtbereitschaft
Als Steppenbewohner standen Pferde über Millionen Jahre im Spannungsfeld zwischen zwei existenziellen Bedürfnissen: dem Schutz vor Witterung und Raubtieren einerseits und der Möglichkeit zur schnellen Flucht andererseits. Diese scheinbar widersprüchlichen Anforderungen prägten ihr Verhalten so nachhaltig, dass sie auch heute noch die Grundlage für durchdachte Stallplanung bilden sollten.
Der 360-Grad-Überblick
In der offenen Steppe war Sichtbarkeit überlebenswichtig. Ein Pferd, das seine Umgebung nicht überblicken konnte, war ein totes Pferd. Deshalb bevorzugen Pferde auch heute noch Plätze, von denen aus sie eine weite Sicht haben und potenzielle Gefahren frühzeitig erkennen können.
Diese Präferenz zeigt sich deutlich im Verhalten: Pferde wählen auf der Weide oft die höchsten Punkte zum Dösen oder Schlafen, stellen sich bei Regen lieber unter das rundum offene Dach ihrer Futterraufe als in den geschlossenen Unterstand, und verweigern manchmal sogar ihr Futter, wenn der Futterplatz ihnen zu „gefährlich“ erscheint.
Fluchtdistanz und Ausweichverhalten
Jedes Pferd hat eine individuelle „Fluchtdistanz“ – den Bereich um sich herum, in dem es sich sicher fühlt. Wird dieser Bereich verletzt, ohne dass eine Flucht möglich ist, entsteht Stress. In der Haltung bedeutet das: Enge Räume ohne Ausweichmöglichkeiten aktivieren permanent das Stresssystem.
Man kann davon ausgehen, dass Pferde einen „persönlichen Raum“ um sich herum haben, der einen Radius von etwa 3-4m hat. Dringen unerwünschte Pferde in diesen Raum ein, wird das betroffene Pferd – je nach Charakter, Rangposition und Situation – ausweichen oder zum Angriff übergehen.
Entsprechend kann man auch einen Unterstand für einen Offenstall nicht mit 3 x 4m Liegefläche pro Pferd planen, wie man das in einem Boxenstall macht – es wird dafür sorgen, dass sich gerade rangniedrige Pferde nie hinlegen, weil sie immer im persönlichen Bereich der anderen sind.
Witterungsschutz: Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
Pferde sind erstaunlich wetterresistent, aber nicht wetterimmun. Ihr dichtes Winterfell schützt bis etwa -15°C, und auch Regen macht ihnen weniger aus als oft angenommen. Dennoch benötigen sie Schutz – allerdings nicht immer dort, wo wir Menschen ihn erwarten würden.
Schutz vor Wind, nicht vor Kälte
Der größte Feind des Pferdes ist nicht die Kälte, sondern der Wind. Ein trockenes Pferd erträgt auch tiefe Temperaturen problemlos, aber Wind zerzaust das schützende Fell und lässt die warme Luftschicht entweichen. Deshalb ist ein windgeschützter Platz oft wichtiger als ein komplett überdachter Stall.
Wildpferde nutzen gerne natürliche Windschatten: Baumgruppen, Hecken, Felsformationen oder Bodensenken. In der domestizierten Haltung müssen wir diese natürlichen Schutzräume durch bauliche Maßnahmen ersetzen: Natürliche Hecken in der Hauptwindrichtung sind dann ein beliebter Windschutz. Auch Totholzhecken bieten Windschutz und helfen gleichzeitig, den Auslauf zu strukturieren und Laufwege zu verlängern.
Verschiedene Wettertypen, verschiedene Bedürfnisse
Nicht alle Pferde haben die gleichen Schutzbedürfnisse:
Robustrassen wie Isländer oder Konik kommen oft mit einfachen Unterständen oder einem Dach mit statt Wänden gespannten Windschutznetzen aus oder bevorzugen häufig sogar das Leben ganz im Freien gegenüber geschlossenen Ställen.
Warmblüter benötigen meist mehr Schutz, besonders vor nasskaltem Wetter und starkem Wind. Hier kann eine kombinierte Haltung aus nachts Box und tagsüber Auslauf manchmal die bessere Option sein gegenüber reiner Offenstallhaltung.
Vollblüter und andere feingliedrige Rassen sind oft kälteempfindlicher und brauchen mehr Witterungsschutz. Auch von ihnen wissen viele den Unterstand oder sogar eine Box für die Nacht zu schätzen.
Alte oder kranke Pferde haben einen erhöhten Schutzbedarf und profitieren von zugfreien, trockenen Ruheplätzen mit dicker Einstreu.
Sonne kann auch problematisch sein
Oft vergessen wird der Schutz vor intensiver Sonneneinstrahlung. Besonders Schimmel und Pferde mit rosa Haut um die Nüstern sind UV-empfindlich und können Sonnenbrand bekommen. Gerade an Tagen ohne Wind kann sich ein schwarzes Pferd in praller Sonne unerträglich aufheizen. Schattenplätze sind daher im Sommer – z.B. in Form von Baumgruppen auf der Weide, Dächern auf Pfosten auf dem Auslauf oder hochgewachsenen Hecken – genauso wichtig wie der Windschutz im Winter.

Die Psychologie des sicheren Raums
Sicherheit ist für Pferde nicht nur eine Frage des körperlichen Schutzes, sondern auch der psychischen Geborgenheit. Ein Raum kann baulich perfekt sein – wenn das Pferd sich dort nicht sicher fühlt, wird es ihn nicht nutzen.
Soziale Sicherheit durch die Herde
Die wichtigste Sicherheit bietet die Herde. Ein Pferd in der Gruppe fühlt sich auch in einem einfachen Unterstand sicherer als ein Einzelpferd in der luxuriösesten Box. Diese soziale Sicherheit kann baulichen Schutz nicht ersetzen, aber erheblich verstärken.
Bei der Stallplanung sollte daher immer berücksichtigt werden:
- Können sich die Pferde sehen und hören?
- Ist Berührungskontakt möglich?
- Gibt es Rückzugsmöglichkeiten für rangniedere Tiere?
Der Faktor Vertrautheit
Pferde sind Gewohnheitstiere. Ein vertrauter Platz vermittelt mehr Sicherheit als der schönste neue Stall. Stallwechsel oder Umbauten sollten daher behutsam erfolgen, mit ausreichend Zeit für Gewöhnung.
Man kann davon ausgehen, dass Pferde nach einem Stallwechsel oder wenn ein neues Pferd in die Gruppe integriert wird bzw. ein Freund die Gruppe verlässt, etwa drei Monate braucht, bis sich wieder ein Gefühl der Sicherheit einstellt. Nach etwa sechs Monaten ist das neue Pferd in der Gruppe wirklich „angekommen“ bzw. die Gruppe hat sich durch den Verlust eines Mitglieds wieder endgültig neu sortiert.
In dieser Zeit sind meist schon wieder zwei Pferde aus- und drei neue eingezogen. Solche Wechsel bedeuten Stress. Ist der Stall optimal angelegt, steht viel Platz zum Ausweichen zur Verfügung und ist immer ausreichend Futter an genügend Fressplätzen vorhanden, beruhigt sich die Situation deutlich schneller als bei nicht artgerechten Stallanlagen.
Ein Pferd fühlt sich dort am sichersten, wo es die Kontrolle behält – über Sichtfelder, Fluchtwege und soziale Kontakte.
Bauliche Grundsätze für Sicherheit
Moderne Stallarchitektur kann die natürlichen Sicherheitsbedürfnisse der Pferde berücksichtigen, ohne dabei unpraktisch oder teuer zu werden:
Mehrere Zugänge schaffen
Der wichtigste Grundsatz: Niemals Sackgassen schaffen. Jeder Raum, in dem sich Pferde aufhalten, sollte mindestens zwei Ausgänge haben. Das gilt für:
- Unterstände (offene lange Seite, Durchgang oder mindestens zwei Eingänge)
- Futterplätze (mehrere Zugangsrichtungen)
- Weiden bzw. zusätzliche Paddockbereiche (Durchgang sollte nicht durch einzelne Pferde blockierbar sein)
- Stallgassen (Durchgänge statt Sackgassen)
Sichtverbindungen ermöglichen
Geschlossene Wände zwischen Pferden erzeugen Stress. Besser sind:
- Gitterstäbe oder Gitternetze zwischen Boxen
- Offene Fronten bei Unterständen
- Sichtfenster in Trennwänden
- Erhöhte Standplätze für besseren Überblick
Bei Unterständen reicht es meist, die Wand bis zum Widerrist des größten Pferdes hochzuziehen, aber nicht komplett zu schließen. Durch den breiten Spalt, der dann zwischen Wand und Dach entsteht, können die Pferde durch einfaches Kopfheben die Umgebung im Auge behalten und der Stall ist an heißen Sommertagen deutlich besser durchlüftet und wird daher gerne als Schattenspender angenommen.
Die richtige Dimensionierung
Zu eng ist stressig, zu weit kann unsicher wirken. Bewährte Maße:
- Unterstände: Mindestens 9-12 m² pro Pferd, besser 15 m² planen
- Box-Paddock-Kombinationen: Paddock sollte mindestens so groß sein wie die Box, gerne größer
- Durchgänge: Mindestens 3,5 m breit, besser 4 m. Hat man eine feste Gruppe ohne Wechsel, die sehr harmonisch ist, können die Durchgänge auch enger sein, aber das Unfallrisiko steigt deutlich, je enger die Durchgänge sind.
- Deckenhöhe: Mindestens doppelte Widerristhöhe des größten Pferdes, damit auch größere Pferde sich nicht bedrängt fühlen und eine gute Luftzirkulation gegeben ist
Natürliche vs. künstliche Schutzräume
Die Natur bietet die besten Vorbilder für sicheren Schutz. Wer diese Prinzipien versteht, kann auch künstliche Schutzräume optimal gestalten.
Was die Natur lehrt
Natürliche Schutzplätze haben gemeinsame Eigenschaften:
- Schutz im Rücken (Felsen, dichtes Gebüsch)
- Freie Sicht nach vorne und zur Seite
- Mehrere Fluchtwege
- Erhöhte Position für besseren Überblick
- Windschutz ohne komplette Einschließung
Übertragung auf die Stallarchitektur
Diese natürlichen Prinzipien lassen sich in die Stallplanung übertragen:
- Offene Fronten: Lang gezogene Unterstände mit offener langer Seite entsprechen dem Bedürfnis nach freier Sicht besser als geschlossene Boxen.
- Rückwandschutz: Eine feste, widerristhohe Rückwand bietet Sicherheit, ohne die Sicht zu behindern.
- Seitliche Öffnungen bei kompakten Ställen: Ermöglichen Luftzirkulation und zusätzliche Fluchtwege.
- Erhöhte Standplätze: Ein leicht erhöhter Futterplatz oder Liegeplatz wird gerne angenommen.
Spezielle Sicherheitsbedürfnisse
Verschiedene Situationen erfordern besondere Aufmerksamkeit für die Sicherheitsbedürfnisse der Pferde.
Kranke und verletzte Pferde
Geschwächte Pferde haben ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis. Sie brauchen:
- Ruhige, aber nicht isolierte Plätze
- Einfachen Zugang zu Futter und Wasser
- Schutz vor Witterung ohne Zugluft
- Möglichkeit zum Liegen auf weichem Untergrund
- Sichtverbindung zur Herde
Oft kann man hier einen Teil vom Offenstall abtrennen, sodass das Pferd weiterhin mit den anderen aus einer Heuraufe fressen kann, aber dennoch durch einen Zaun räumlich getrennt ist und seinen eigenen geschützten Unterstand-Bereich hat. Viele Offenställe nutzen solche Bereich auch für die Integration oder um ältere Pferde über Nacht zu separieren und zuzufüttern. Ein Holzzaun mit Toren auf zwei Seiten bietet die Möglichkeit, diesen Bereich beispielsweise über Tag offen zu lassen, sodass er von allen Pferden genutzt werden kann, aber über Nacht für rangniedrige oder alte Pferde abzutrennen.
Fohlen und Jungpferde
Junge Pferde sind neugierig, aber auch noch unsicher. Sie profitieren von:
- Erhöhten Beobachtungsplätzen
- Stabilen Herdenstrukturen
- Unfallsicheren Stallbauten (sie stecken erstmal überall den Kopf oder die Beine durch, daher ist vor allem bei Raufen, Bretterzäunen und ähnlichen Bauten, in denen sie sich verkeilen können, Vorsicht geboten)
- Sicheren Spielbereichen, wo die älteren Pferde nicht gestört werden
Häufige Planungsfehler
Viele gut gemeinte Stallbauten scheitern an der Missachtung der natürlichen Sicherheitsbedürfnisse.
Lange, enge Stallgassen ohne gute Ausweichmöglichkeit, Paddocks mit spitzen Winkeln in den Ecken oder komplett geschlossene Unterstände mit nur einem oder zwei Ausgängen, die dann auch noch mit Lamellen zugehängt werden, können zu Stress führen, wenn ranghöhere Pferde den Ausgang blockieren oder plötzlich in den Unterstand gestürmt kommen.
Vollständig geschlossene Boxen mögen warm und trocken sein, aber sie widersprechen dem Bedürfnis nach Überblick und sozialer Kontrolle. Boxen mit angeschlossenem Paddock kommen dem natürlichen Verhalten zumindest ein Stück weit entgegen. Häufig kann man die Pferde mit dem Körper in der trockenen Box, aber mit dem Kopf draußen in der kalten Winterluft oder im Regen stehen sehen – das Bedürfnis, den Horizont zu überblicken ist ganz offensichtlich wichtiger als trockene Ohren.
Futterplätze, die nur von einer Seite zugänglich sind, ebenso wie Futterautomaten, führen zu Stress in der Herde. Rangniedere Pferde trauen sich nicht zum Fressen, wenn sie keinen Fluchtweg haben oder werden sogar aktiv von ranghöheren verjagt. Sinnvoller ist es, mehrere Heuraufen aufzustellen oder – wenn dafür die Möglichkeiten fehlen – zumindest mehrere Heunetze oder Heukisten auf dem Auslauf oder Paddock Trail zu verteilen. Das ermöglicht nicht nur das Ausweichen auf andere Fress-Stationen, sondern sorgt auch für insgesamt mehr Bewegung – weil Pferde immer denken, dass das Heu in der Raufe da hinten ja besser sein könnte.
Integration in verschiedene Haltungssysteme
Die für Pferde wichtigen Sicherheitsprinzipien lassen sich grundsätzlich in allen weitgehend artgerechten Haltungsformen umsetzen:
Offenstall: Ideal, da natürliche Prinzipien am besten umsetzbar sind, allerdings ist hier die Zusammenstellung der Gruppe immens wichtig, um Sozialstress zu vermeiden.
Aktivstall: Technische Bereiche brauchen besondere Aufmerksamkeit für Sichtverbindungen und dass keine Ressourcen von ranghohen Pferden verteidigt werden.
Paddock Trail: Perfekt geeignet für die Umsetzung natürlicher Schutzprinzipien, vor allem was Bewegung und die Auswahl geliebter Plätze angeht – vom windgeschützte Döseplatz hinter der Hecke bis zum Aussichtspunkt auf dem Sandhügel.
Boxenhaltung: Herausfordernd, aber durch angeschlossene Paddocks und Gruppenauslauf über Tag verbesserbar
Sicherheit ist Lebensqualität
Sicherheit ist für Pferde nicht verhandelbar – sie ist ein Grundbedürfnis wie Futter und Wasser. Wer die natürlichen Sicherheitsbedürfnisse versteht und respektiert, schafft nicht nur gesündere Haltungsbedingungen, sondern auch entspanntere, ausgeglichenere Pferde.
Die gute Nachricht: Sicherheit kostet nicht unbedingt mehr Geld. Oft reichen schon kleine bauliche Veränderungen oder eine durchdachtere Anordnung von Futterplätzen und Unterständen, um die Lebensqualität der Pferde erheblich zu verbessern.
Letztendlich geht es darum, die Welt mit den Augen des Pferdes zu sehen: Wo sind die Fluchtwege? Kann ich meine Herde sehen? Bin ich vor Wind geschützt, ohne gefangen zu sein? Habe ich immer Futter in Reichweite? Wer diese Fragen bei jeder Stallplanung mitdenkt, ist auf dem besten Weg zu einer wirklich pferdefreundlichen Haltung.
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