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Ohne Artgenossen wird selbst das stärkste Pferd zum gestressten Einzelgänger – die Wissenschaft hinter dem Herdentrieb

Das Wichtigste in Kürze:

  • Pferde sind ausgeprägte Herdentiere mit komplexen sozialen Strukturen und Hierarchien
  • Sozialkontakt ist ein Grundbedürfnis – Isolation führt zu Stress, Verhaltensstörungen und gesundheitlichen Problemen
  • Die Kommunikation erfolgt über Körpersprache, Lautäußerungen und subtile Signale, die für das Herdengefüge essentiell sind
  • Rangordnungen entstehen durch Ressourcenkontrolle, nicht durch Dominanz im menschlichen Sinne
  • Falsche Vergesellschaftung kann zu Mobbing, Verletzungen und chronischem Stress führen
  • Auch in der Pferdehaltung müssen soziale Bedürfnisse berücksichtigt werden – von der Stallarchitektur bis zur Gruppenbildung

Die Herde als Überlebensgarantie

In der Wildnis bedeutete die Zugehörigkeit zu einer Herde für ein Pferd den Unterschied zwischen Leben und Tod. Diese existenzielle Abhängigkeit hat sich tief in die Psyche der Pferde eingeprägt und prägt ihr Verhalten bis heute. Ein isoliertes Pferd ist in der Natur ein totes Pferd – entsprechend stark ist der biologische Drang nach Gesellschaft programmiert.

Wildpferde leben in zwei verschiedenen Sozialstrukturen: Den Familienverbänden mit einem Leithengst, mehreren Stuten und ihrem Nachwuchs, sowie den Junggesellengruppen heranwachsender Hengste. Beide Strukturen bieten Schutz, gemeinsame Ressourcennutzung und sozialen Austausch.

Die Vorteile des Herdenlebens

Das Leben in der Gruppe bringt entscheidende Überlebensvorteile mit sich:

  • Kollektive Wachsamkeit: Während einige Tiere fressen oder ruhen, halten andere Ausschau nach Gefahren
  • Geteiltes Wissen: Erfahrene Tiere führen die Herde zu Wasser- und Futterquellen
  • Schutz der Schwächeren: Kranke oder verletzte Tiere sowie der Nachwuchs werden von der Gruppe geschützt
  • Thermoregulation: Gegenseitiges Wärmen in kalten Nächten und eisigen Stürmen
  • Parasitenbekämpfung: Gegenseitiges Putzen entfernt Parasiten wie Zecken an unzugänglichen Stellen

Die Sprache der Pferde

Pferde kommunizieren über ein hochentwickeltes System aus Körpersprache, Mimik und Lautäußerungen. Diese nonverbale Kommunikation ist so fein abgestimmt, dass bereits minimale Veränderungen in der Körperspannung wichtige Botschaften übertragen.

Körpersprache als Hauptkommunikationsmittel

Die Kommunikation läuft hauptsächlich über visuelle Signale ab:

Ohrenstellung: Gespitzte Ohren zeigen Aufmerksamkeit, nach hinten gelegte Ohren Warnung oder Aggression, seitlich gedrehte Ohren Entspannung oder Dösen. Dazwischen gibt es jede Menge feine Nuancen, um zu signalisieren, was gerade los ist.

Kopfhaltung: Ein hoch getragener Kopf signalisiert Aufmerksamkeit oder Dominanz, ein tief getragener Kopf Entspannung oder Unterwerfung.

Schweifeinsatz: Das Schlagen mit dem Schweif kann Unbehagen oder Abwehr bedeuten, ein entspannt mit der Bewegung schwingender Schweif zeigt Wohlbefinden, ein Wedeln dient meist dem Verscheuchen von Fliegen.

Beinarbeit: Scharren, Ausschlagen oder das Anheben eines Beines sind klare Warnsignale.

Lautäußerungen mit Bedeutung

Obwohl Pferde nicht so verbal kommunikativ sind wie andere Herdentiere, haben ihre Lautäußerungen wichtige soziale Funktionen:

  • Wiehern: Kontaktaufnahme über größere Distanzen, Rufen nach der verloren gegangenen Herde, Begrüßung
  • Heftiges Schnauben: Warnung vor Gefahren, Aufregung
  • Entspanntes Abschnauben / Prusten: Entspannung, Wohlbefinden
  • Quietschen: Oft bei sozialen Interaktionen zwischen Stuten

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Das Flehmen ist nicht nur ein lustiger Gesichtsausdruck

Wenn Pferde die Oberlippe hochziehen und den Kopf recken, „flehmen“ sie. Dabei transportieren sie Duftmoleküle zum Jacobson-Organ im Gaumen, um Gerüche intensiver zu analysieren. Besonders Hengste nutzen das Flehmen, um den Hormonstatus von Stuten zu überprüfen, aber auch andere soziale und territoriale Informationen werden so „erschnüffelt“.

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Rangordnung: Mehr als nur „der Boss sein“

Entgegen landläufiger Meinung funktionieren Pferdeherden nicht nach dem Prinzip der brutalen Dominanz. Moderne Verhaltensforschung zeigt, dass die sozialen Strukturen viel komplexer und situationsabhängiger sind als früher angenommen.

Ressourcenkontrolle statt Dominanz

Die Position in der Herdenhierarchie entscheidet sich hauptsächlich daran, wer Zugang zu wichtigen Ressourcen kontrolliert. Das können Futterplätze, Wasserstellen, schattige Ruheplätze oder sichere Bereiche sein. Ein Pferd mit hohem Rang hat nicht automatisch über alle anderen die Kontrolle, sondern kann bestimmte Ressourcen für sich beanspruchen.

Diese Rangordnung ist zudem situativ: Ein Pferd kann beim Fressen einen hohen Rang haben, bei der Fellpflege aber von einem anderen Pferd dominiert werden. Die Hierarchie ist also viel dynamischer und komplexer als eine simple „Hackordnung“. Daher spricht man bei Wildpferdegruppe inzwischen gar nicht mehr von „Hierarchie“ (im menschlichen Sinne), sondern eher von „Aufgabenteilungen“ – so gibt es üblicherweise den oder die Wächter, den Wassersucher oder das Pferd, das signalisiert, dass die Gruppe jetzt aufbricht, um einen Schattenplatz oder einen andere Teil der Weidegründe aufzusuchen.

Faktoren für den sozialen Rang

Verschiedene Faktoren beeinflussen die Position eines Pferdes in der Herde:

  • Alter und Erfahrung: Ältere, erfahrene Pferde haben oft einen hohen sozialen Status, während ganz alte Pferde in der Rangordnung meist wieder absteigen
  • Körpergröße und Kondition: Größere, kräftigere Pferde können sich meist durchsetzen, aber es gibt genügend Gruppen großer Pferde, die vom Shetty angeführt werden
  • Persönlichkeit: Selbstbewusste, entscheidungsfreudige Pferde übernehmen oft Führungsrollen
  • Geschlecht: In gemischten Gruppen haben oft Stuten die Kontrolle über Bewegungen der Herde
  • Verwandtschaft: Familienbande können die Rangposition beeinflussen, so sind Fohlen von rangniedrigen Stuten oft selber weiter unten im Rang.

Wenn Sozialverhalten schiefgeht

Nicht jede Vergesellschaftung verläuft harmonisch. Probleme in der Herdendynamik können zu ernsthaften Schwierigkeiten führen, die sowohl das Wohlbefinden als auch die Gesundheit der Pferde beeinträchtigen.

Mobbing in der Pferdeherde

Mobbing tritt auf, wenn ein oder mehrere Pferde systematisch von der Gruppe ausgeschlossen oder attackiert werden. Die Gründe können vielfältig sein:

  • Einführung eines neuen Pferdes ohne ausreichende Gewöhnungszeit
  • Überbelegung mit zu wenig Raum für Ausweichbewegungen
  • Unzureichende Ressourcen (zu wenig Futter- oder Wasserstellen)
  • Charakterliche Inkompatibilität zwischen einzelnen Tieren
  • Stress durch schlechte Haltungsbedingungen

Ein gemobbtes Pferd ist nicht automatisch „schwach“ – oft stimmen einfach die Rahmenbedingungen nicht.

Stress durch Isolation

Einzelhaltung ohne Sozialkontakt führt bei den meisten Pferden zu chronischem Stress. Die Auswirkungen sind wissenschaftlich gut dokumentiert:

  • Erhöhte Cortisolwerte (Stresshormon)
  • Schwächung des Immunsystems
  • Entwicklung von Stereotypien (Weben, Koppen, Boxenlaufen)
  • Hypervigilanz und Schreckhaftigkeit
  • Depressive Verstimmungen

Praktische Konsequenzen für die Pferdehaltung

Das Verständnis des natürlichen Sozialverhaltens hat direkte Auswirkungen auf die Gestaltung artgerechter Haltungssysteme.

Sichtkontakt als Minimum

Selbst wenn direkter Körperkontakt nicht möglich ist (z.B. bei Hengsthaltung, wenn auch Stuten auf der Anlage stehen), sollten Pferde zumindest ihre Artgenossen sehen können. Sichtkontakt reduziert Stress erheblich und ermöglicht zumindest rudimentäre soziale Interaktionen. Stabile Holz- oder Metallzäune erlauben auch Körperkontakt und ein Minimum an Fellpflege – im Gegensatz zu Elektrozäunen.

Berührungskontakt wo möglich

Pferde putzen sich gegenseitig nicht so sehr aus hygienischen Gründen, sondern vor allem zur sozialen Bindung und Entspannung. Haltungssysteme, die Berührungskontakt über Zäune oder Gitter hinweg ermöglichen, kommen diesem Bedürfnis entgegen. Optimal ist aber immer die Haltung zumindest in Zweier-Gruppen oder größeren Gruppen, damit die Pferde sich ihren bevorzugten „Fellpflegepartner“ frei aussuchen können.

Gruppenhaltung richtig gestalten

Bei der Gruppenhaltung sind verschiedene Faktoren zu beachten:

  • Ausreichend Platz: Mindestens 150-200 m² pro Pferd in Offenstallhaltung
  • Mehrere Futter- und Wasserstellen: Vermeidung von Futterneid und Ressourcenkonkurrenz
  • Rückzugsmöglichkeiten: Separate Bereiche für rangniedere oder gestresste Pferde, vor allem bei großen Gruppen oder Gruppen mit häufigem Wechsel
  • Behutsame Integration: Neue Pferde schrittweise und kontrolliert eingliedern

Die richtige Gruppenzusammensetzung

Nicht jedes Pferd passt zu jeder Gruppe. Wichtige Überlegungen:

  • Ähnliche Größe und Kraft: Vermeidung von zu großen körperlichen Unterschieden
  • Kompatible Charaktere: Ruhige und temperamentvolle Pferde geschickt mischen
  • Altersstruktur beachten: Jungpferde brauchen andere Sozialpartner als Senioren
  • Geschlechtertrennung: Reine Wallachgruppen und Stutengruppen mit nur einem erfahrenen Wallach sind meist unkomplizierter als gemischte Gruppen

Das Pferd und sein Verhalten respektieren

Pferde sind durch Millionen Jahre Evolution zu hochsozialen Wesen geworden. Dieses Erbe zu ignorieren bedeutet, einen fundamentalen Teil ihrer Natur zu missachten. Artgerechte Haltung muss daher immer auch die sozialen Bedürfnisse berücksichtigen – von der Stallarchitektur über die Gruppenbildung bis hin zum täglichen Management.

Die Investition in durchdachte Sozialisierung zahlt sich aus: Ausgeglichene, sozial eingebundene Pferde sind gesünder, entspannter und letztendlich auch einfacher im Umgang. Sie zeigen uns täglich, dass das Leben in Gemeinschaft nicht nur für Menschen, sondern auch für Pferde eine der größten Quellen für Wohlbefinden und Lebensqualität darstellt.

Team Sanoanimal