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Wie wilde Hengste leben und was wir von ihnen lernen können

Das Wichtigste in Kürze

  • Wilde Hengste leben in zwei verschiedenen Sozialstrukturen: als Familienhengst mit Stuten oder in Junggesellengruppen
  • Die Führungsrolle in der Familie übernimmt meist eine erfahrene Leitstute, nicht der Hengst
  • Junggesellengruppen bestehen aus jungen oder verdrängten Hengsten ohne eigene Stutenherde
  • Territoriales Verhalten und Rangkämpfe sind natürliche Bestandteile des Hengstlebens
  • Wilde Hengste zeigen deutlich andere Verhaltensmuster als domestizierte Hengste
  • Das Verständnis natürlicher Hengststrukturen hilft bei der artgerechten Haltung
  • Erzwungene soziale Isolation ist für Hengste in der Natur unbekannt und unnatürlich

Das Leben wilder Hengste unterscheidet sich grundlegend von dem ihrer domestizierten Artgenossen. Während unsere Hengste oft isoliert gehalten werden, leben ihre wilden Verwandten in komplexen sozialen Strukturen, die von Kooperation, Hierarchien und ständiger Kommunikation geprägt sind.

Leben als Leithengst – Beschützer der Herde

Ein wilder Hengst ist in erster Linie Familienvater und Beschützer, nicht Diktator seiner Herde. Ein erfolgreicher Wildpferdehengst führt eine Familiengruppe, die typischerweise aus drei bis zwölf Stuten und deren Fohlen besteht. Entgegen weit verbreiteter Annahmen übernimmt jedoch nicht der Hengst die Führung der Herde. Diese wichtige Aufgabe liegt meist bei einer erfahrenen Leitstute, die den Weg zu Wasserstellen und Weidegründen kennt und bei Gefahr die Fluchtrichtung vorgibt.

Der Hengst fungiert vielmehr als Beschützer und „Hirte“ seiner Familie. Er hält die Gruppe zusammen, treibt nachzüglerische Stuten an und verteidigt seine Familie gegen Raubtiere oder rivalisierende Hengste. Dabei positioniert er sich oft am Rand der Herde oder folgt ihr in einiger Entfernung, um potentielle Bedrohungen frühzeitig zu erkennen.

Territoriales Verhalten und Markierung

Wilde Hengste markieren ihr Revier regelmäßig durch Kotabsatz an strategischen Stellen und charakteristische Scharrspuren. Diese Markierungen dienen der Kommunikation mit anderen Hengsten und signalisieren Besitzansprüche. Das Territorium eines Familienhengstes kann je nach Futterangebot und Wasserzugang unterschiedlich groß sein.

Junggesellengruppen – Zusammenschluss aus der Not

Junge Hengste, die noch keine eigene Stutenherde erobern konnten, oder ältere Hengste, die ihre Familie verloren oder an einen Nachfolger abgegeben haben, schließen sich zu sogenannten Junggesellengruppen zusammen. Diese Gruppen können aus zwei bis zu zwanzig Hengsten bestehen und bieten mehrere Vorteile:

  • Schutz vor Raubtieren durch gemeinsame Wachsamkeit
  • Gegenseitige Fellpflege und soziale Kontakte
  • Übung im Kampfverhalten für die Junghengste durch spielerische Rangeleien
  • Gemeinsame Suche nach Futter und Wasser
  • Lernen von erfahreneren Gruppenmitgliedern

Dynamik und Hierarchien

Innerhalb der Junggesellengruppen herrscht eine klare, aber flexible Hierarchie. Ältere und stärkere Hengste stehen meist an der Spitze, doch diese Rangordnung wird regelmäßig durch spielerische oder ernsthafte Kämpfe überprüft. Diese Auseinandersetzungen sind wichtig für die Entwicklung der jungen Hengste und bereiten sie auf spätere Konkurrenzkämpfe um Stuten vor. Außerdem lernen die Junghengste ihre körperlichen Fähigkeiten und Grenzen kennen, was ihnen später auch hilft, wenn sie ihre Familie gegen Raubtiere verteidigen müssen.

Freundschaften unter Hengsten

Wissenschaftliche Beobachtungen zeigen, dass wilde Hengste durchaus dauerhafte Freundschaften entwickeln können. Manche Hengste bleiben jahrelang zusammen, pflegen sich gegenseitig das Fell und unterstützen sich sogar bei Kämpfen gegen andere Hengste.

Kommunikation und soziale Interaktion

Wilde Hengste kommunizieren über ein komplexes System von Körpersignalen, Lautäußerungen und Gerüchen. Die Ohrenstellung, Kopfhaltung und Körperspannung vermitteln präzise Botschaften an Artgenossen. Diese subtile Kommunikation ermöglicht es, Konflikte oft ohne körperliche Auseinandersetzungen zu lösen.

Besonders bemerkenswert ist das sogenannte „Flehmen“ – das charakteristische Hochziehen der Oberlippe, mit dem Hengste Geruchsinformationen besser aufnehmen können. Dieses Verhalten hilft ihnen, den Hormonzustand der Stuten zu erkennen oder die Markierungen anderer Hengste zu analysieren, was wiederum direkte Auswirkungen auf ihr Verhalten hat.

Spielverhalten und Lernprozesse

Junge Hengste in freier Wildbahn lernen durch ausgiebiges Spiel mit Gleichaltrigen. Diese spielerischen Kämpfe und Verfolgungsjagden sind essentiell für die Entwicklung ihrer körperlichen Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen. Im Spiel werden Kampftechniken erlernt, Grenzen ausgetestet und Freundschaften geknüpft.

Unterschiede zum domestizierten Hengst

Die Beobachtung wilder Hengste liefert wertvolle Erkenntnisse für die artgerechte Haltung domestizierter Hengste, denn die Verhaltensunterschiede zwischen wilden und domestizierten Hengsten sind beträchtlich. Während wilde Hengste ihre natürlichen Instinkte ausleben können, werden diese bei Haushengsten oft unterdrückt oder bestraft, was sich direkt auf ihr Verhalten auswirkt.

Domestizierte Hengste müssen meist:

  • In sozialer Isolation leben
  • Territoriale Instinkte unterdrücken
  • Auf natürliche Rangeleien und gegenseitige Fellpflege verzichten
  • Schutzinstinkte unterdrücken
  • Sexuelles Verhalten stark einschränken oder
  • Artifizielles Sexualverhalten zeigen, wenn sie als Zuchthengste abgesamt werden.

Auswirkungen auf Körper und Psyche

Diese Einschränkungen führen häufig zu Verhaltensproblemen bei domestizierten Hengsten. Stereotypien wie Weben, Koppen oder aggressives Verhalten können Folgen der unnatürlichen Haltungsbedingungen sein. Wilde Hengste zeigen diese Probleme praktisch nie, da sie ihre natürlichen Bedürfnisse ausleben können.

Lehren aus der Natur

Soziale Bedürfnisse berücksichtigen: Hengste brauchen Kontakt zu Artgenossen, auch wenn eine gemischte Gruppenhaltung nicht immer möglich ist.

Bewegung und Beschäftigung: Territoriales Verhalten und der natürliche Bewegungsdrang müssen durch ausreichend Auslauf und Beschäftigung kompensiert werden.

Kommunikation verstehen: Das Verständnis natürlicher Hengstsprache hilft beim täglichen Umgang und Training.

Respekt vor Instinkten: Natürliche Verhaltensweisen sollten nicht grundsätzlich bestraft, sondern sinnvoll kanalisiert werden.

Die Erforschung wilder Pferdepopulationen zeigt deutlich, dass Hengste von Natur aus soziale Tiere sind, die in komplexen Gemeinschaften leben. Dasselbe kann man auch in Aufzuchtgruppen domestizierter Pferde sehen, wo ausschließlich Hengste und Wallache zusammenstehen. Leider ändert sich das meist, wenn die Pferde aufgestallt und angeritten werden – dann wird der Hengst isoliert und seiner natürlichen Sozialkontakte und Verhaltensweisen beraubt. Diese Erkenntnis sollte die Grundlage für jeden Ansatz zur artgerechten Hengsthaltung bilden. Nur wenn wir die natürlichen Bedürfnisse und Verhaltensweisen verstehen, können wir domestizierten Hengsten ein würdiges Leben ermöglichen.

Team Sanoanimal