Warum Wildpferde ohne Fliegendecke auskommen und was wir davon lernen können
Das Wichtigste in Kürze
- Natürliche Abwehr: Mähne, Schopf und Schweif oft manchmal auch dichtes Sommerfell sind die biologischen Fliegenwedel des Pferdes
- Zuchtbedingte Schwächen: Moderne Pferderassen haben oft weniger natürlichen Schutz als ihre wilden Verwandten
- Bewegung hilft: Ständige Aktivität hält Insekten fern – Stallhaltung begünstigt Insektenbefall
- Hautreflex: Pferde können durch unwillkürliche Hautbewegungen Insekten abschütteln
- Verhalten zählt: Schattensuche und strategische Standortwahl sind natürliche Schutzstrategien
Millionen von Jahren haben Pferde in freier Wildbahn überlebt – ganz ohne menschliche Hilfe und definitiv ohne Fliegendecken. Dabei waren sie denselben lästigen Insekten – und oft in viel größeren Mengen – ausgesetzt wie heute. Wie haben sie das geschafft? Die Antwort liegt in ausgeklügelten natürlichen Schutzmechanismen, die bei vielen unserer heutigen Hauspferde leider nicht mehr vollständig funktionieren.
Pferde sind von der Natur eigentlich perfekt ausgestattet
Mähne und Schopf als lebende Fliegenwedel
Der lange, dichte Schopf eines Wildpferdes fungiert wie ein natürlicher Vorhang vor den Augen. Beim Grasen bewegen sich diese Haare ständig hin und her und machen es Fliegen nahezu unmöglich, sich auf der empfindlichen Augenpartie niederzulassen. Die Mähne erfüllt eine ähnliche Funktion für den Halsbereich – genau dort, wo Pferde bei Hitze am stärksten schwitzen und damit Insekten anlocken.
Diese natürliche Konstruktion ist so effektiv, dass selbst leichte Luftbewegungen die Haare in Schwingung versetzen und damit eine kontinuierliche Abwehr schaffen. Was für uns Menschen wie eine wilde Frisur aussieht, ist in Wahrheit ein hochentwickeltes Verteidigungssystem.
Der Schweif – mehr als nur Zierde
Der Pferdeschweif ist weit mehr als ein optisches Merkmal. Er dient als flexibler, präziser Fliegenwedel, der Flanken und Bauch erreichen kann. Wildpferde haben oft besonders lange, dichte Schweife, die bis fast zum Boden reichen. Diese Reichweite ist entscheidend: Je länger der Schweif, desto größer die Körperoberfläche, die geschützt werden kann.
Beobachtet man Pferde auf der Weide, fällt auf, dass der Schweif praktisch nie stillsteht. Selbst beim Dösen oder entspannten Grasen wedelt er kontinuierlich – ein automatischer Reflex, der keine bewusste Steuerung erfordert. Beim Auftreffen auf den Körper fächert sich ein kräftiger Schweif schön auf, sodass großflächig lästige Insekten vertrieben werden.
Der unterschätzte Hautreflex
Ein oft übersehener Aspekt der natürlichen Insektenabwehr ist der sogenannte Hautreflex. Pferde können ihre Haut an nahezu jeder Körperstelle reflexartig zucken lassen, wenn sich ein Insekt darauf niederlässt. Diese unwillkürliche Reaktion funktioniert ähnlich wie unser Lidschlussreflex – blitzschnell und ohne bewusstes Nachdenken. Es ist also keine aktive Muskelbewegung, daher funktioniert der Hautreflex sogar beim sedierten Pferd.
Dieser Mechanismus ist besonders an Körperstellen wichtig, die weder Mähne noch Schweif erreichen können, daher ist der Hautreflex an den Flanken so ausgeprägt. Das feine Muskelspiel unter der Haut kann selbst die hartnäckigste Bremse zum Aufgeben bringen.
Was der Eingriff des Menschen verändert hat
Ästhetik vor Funktion
Die Realität in modernen Pferdeställen sieht leider anders aus. Durch gezielte Zucht wurden bei vielen Rassen die natürlichen Schutzhaare drastisch reduziert. Warmblutpferde sollen elegant und sportlich aussehen – da stören üppige Mähnen und lange Schöpfe das gewünschte Erscheinungsbild.
Diese ästhetischen Entscheidungen haben praktische Konsequenzen. Ein auf Handbreite gestutzter Schopf kann die Augen nicht mehr effektiv schützen. Eine ausgedünnte und zusätzlich noch auf „Turnierlänge“ gestutzte Mähne verliert ihre Funktion als Insektenbarriere. Der Preis für das „aufgeräumte“ Aussehen ist der Verlust des natürlichen Schutzes.
Kurze Schweife, große Probleme
Besonders gravierend ist das Kürzen der Schweife auf Sprunggelenkslänge, was vor allem bei Sportreitern immer noch hoch im Kurs steht. Was pflegeleicht und sportlich aussieht, beraubt das Pferd seiner wichtigsten Abwehrwaffe gegen Insekten am Körper. Ein gekürzter Schweif kann weder Bauch noch Flanken ausreichend erreichen – genau die Bereiche, die für stechende Insekten besonders attraktiv sind.
Ständig in Bewegung sein ist eine effektive Insekten-Vermeidungs-Strategie
Immer auf Achse
Wildpferde verweilen selten längere Zeit an einem Ort. Ihre ständige Bewegung ist nicht nur der Futtersuche geschuldet, sondern auch ein effektiver Schutz vor Insekten. Fliegen und Mücken haben es deutlich schwerer, auf einem sich bewegenden Ziel zu landen als auf einem ruhig stehenden Pferd.
Strategische Standortwahl
In der freien Natur können Pferde zudem selbst entscheiden, wo sie sich aufhalten. Sie meiden instinktiv Feuchtgebiete wie Sümpfe oder Tümpel, in denen Mücken brüten, und suchen während der heißesten Tageszeit Schutz im Schatten. Dort ist es nicht nur kühler, sondern auch weniger attraktiv für Bremsen, die besonders bei direkter Sonneneinstrahlung aktiv sind.
Die Stallrealität sieht leider anders aus
Unsere Hauspferde haben diese Wahlfreiheit nicht. Sie stehen dort, wo wir den Zaun aufgestellt haben – oft ohne Schatten, manchmal in der Nähe von stehendem Wasser wie Pfützen oder Entwässerungsgräben oder sogar praktisch direkt neben dem Misthaufen, der Fliegen magisch anzieht. Sie werden mitten am Tag auf die Weide gestellt, auf der kein Baum oder Strauch Schatten spendet, wo sie den Bremsen komplett ausgeliefert sind. Abends kommen sie dann in die Box, wo die Fliegenplage schon auf sie wartet. Die natürlichen Verhaltensweisen zur Insektenvermeidung können so nicht ausgelebt werden.
Was wir daraus lernen können
Das Verständnis für die natürlichen Schutzmechanismen sollte unsere Entscheidungen in der Pferdehaltung beeinflussen. Statt die Evolution zu ignorieren, können wir sie unterstützen:
- Mähne und Schopf funktional trimmen statt radikal kürzen
- Schweife in natürlicher Länge belassen, wo möglich
- Bewegungsmöglichkeiten schaffen durch größere Weiden oder Paddock-Trail-Systeme
- Schattenplätze zur Verfügung stellen für die Mittagshitze
- Weidezeiten an die natürlichen Aktivitätsphasen der Pferde anpassen
Die Natur hat Millionen von Jahren Zeit gehabt, um perfekte Lösungen zu entwickeln. Anstatt diese komplett zu ersetzen, sollten wir sie verstehen und dort ergänzen, wo die moderne Pferdehaltung an ihre Grenzen stößt. Denn ein Pferd, das seine natürlichen Abwehrmechanismen nutzen kann, braucht deutlich weniger künstliche Hilfsmittel im Kampf gegen lästige Insekten.