Schritt-für-Schritt-Anleitung für harmonisches Zusammenleben (fast) ohne Verletzungsrisiko
Das Wichtigste in Kürze
- Quarantäne ist Pflicht: 15 Tage Isolation schützen vor Krankheitsübertragung und ermöglichen Eingewöhnung
- Zaunkontakt zuerst: Erstkontakt über sicheren Zaun vermeidet Verletzungen bei der Rangordnungsklärung
- Schrittweise Integration: Einzelne „Buddy-Partner“ vor der ganzen Herde kennenlernen lassen
- Ausreichend Platz: Fluchtmöglichkeiten und „runde“ Ecken sind überlebenswichtig
- Ressourcen-Management: Futter, Wasser und Unterschlupf strategisch platzieren oder temporär entfernen
- Geduld zahlt sich aus: Vollständige Integration dauert etwa drei Monate
- Überwachung nötig: Erste 30 Minuten intensiv beobachten, danach regelmäßige Kontrollen
Das Bild von friedlich grasenden Pferdeherden auf weitläufigen Weiden entspricht unserem Ideal der artgerechten Pferdehaltung. Doch die Realität sieht oft anders aus: Die Integration eines neuen Pferdes in eine bestehende Herde kann zu ernsten Verletzungen führen, wenn sie nicht durchdacht geplant wird. Einer der häufigsten Fehler besteht darin, das neue Pferd einfach zu den anderen zu stellen und zu hoffen, dass sie sich schon vertragen werden.
Warum Pferdeintegration oft schiefgeht
Pferde verstehen sich nicht automatisch miteinander – genau wie Menschen auch. Das größte Problem entsteht, wenn Pferdebesitzer oder Stallbetreiber einen Neuankömmling ohne Vorbereitung und Aufsicht einfach zu den anderen auf die Weide stellen, nach dem Motto „ist ja genug Platz zum Ausweichen da, wird schon schief gehen.“ Diese unüberlegte Herangehensweise führt häufig zu Beißereien, Tritten und schweren Verletzungen, die vermeidbar gewesen wären.
Ein weiterer kritischer Faktor ist die soziale Vorgeschichte des neuen Pferdes. Noch heute ist es üblich, dass in vielen Sportställen Pferde separiert und ohne direkten Herdenkontakt gehalten werden. Dasselbe gilt für Hengste, die dann – wenn sie im Sport oder in der Zucht nicht mehr interessant sind – plötzlich kastriert und in eine Gruppenhaltung gegeben werden sollen. Pferde, die jahrelang einzeln gehalten wurden, haben oft ihre natürlichen sozialen Fähigkeiten verloren oder nie richtig entwickelt. Sie verstehen die Körpersprache ihrer Artgenossen nicht mehr und können entsprechend nicht angemessen reagieren – ein Rezept für Konflikte.
Die Hausaufgaben vor der Integration
Soziale Historie erforschen
Bevor das neue Pferd überhaupt ankommt, sollte der Stallbetreiber so viel wie möglich über dessen soziale Vergangenheit erfahren. Pferde, die hauptsächlich in Einzelhaltung gelebt haben, benötigen besonders viel Zeit und Geduld bei der Integration. Menschen können diese pferdetypische Sozialsprache nicht vermitteln – das müssen andere Pferde übernehmen. Hier kann es beispielsweise angezeigt sein, das desoziaisierte Pferd nicht gleich in eine Gruppe zu stellen, sondern erstmal für längere Zeit nur mit einem freundlichen „Buddy“ zusammen stehen zu lassen, der dem Neuling die Körpersprache wieder beibringt.
Quarantäne als Pflichtprogramm
Nach der Ankunft folgt eine 15-tägige Quarantäne. Diese dient nicht nur dem Schutz vor übertragbaren Krankheiten, sondern gibt dem Pferd auch die Möglichkeit, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Denn so ein Umzug ist für das Pferd ein erheblicher Stressfaktor – es wird aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und findet sich plötzlich in einer völlig neuen wieder. Pferde sind Gewohnheitstiere und solche abrupten Veränderungen sorgen für erheblichen Stress, der sich unter anderem auch auf ihr Verhalten auswirkt, was eine Integration erschwert. In dieser Quarantäne-Zeit sollte auch eine Kotuntersuchung stattfinden, um zu entscheiden, ob der Neuzugang eventuell noch vor der Integration entwurmt werden muss.
Der richtige Zaun macht den Unterschied
Sicherer Erstkontakt
Die erste Begegnung zwischen dem neuen Pferd und der Herde sollte immer über einen Zaun stattfinden. Dabei ist ein normaler, unter Strom stehender Elektrozaun in der Regelausreichend – es sei denn, das Pferd hat sich in der Vergangenheit angewöhnt, Stromzäune zu ignorieren und einfach hindurchzurennen. Bei sehr schwierigen Kandidaten kann es notwendig sein, stabile Metall-Panels (wie man sie z.B. für Roundpens verwendet), Abstandshalter oder sogar zwei parallel verlaufende Zäune einzusetzen, die eine Art „Niemandsland“ zwischen den Pferden schaffen. Diese Konstruktion erlaubt es den Tieren, sich zu beschnuppern, verhindert aber, dass sie sich mit den Vorderbeinen erreichen können.
Anpassung je nach Fortschritt
Der Zaun sollte hoch genug sein, damit sich ausschlagende oder steigende Pferde nicht über den Zaun hinweg verletzen können. Sobald sich alle Beteiligten beruhigt haben – meist nach einigen Tagen – kann üblicherweise auf einen einfacheren Zaun umgestellt werden, der näheren Kontakt ermöglicht. Wichtig ist dabei, die Pferde gut zu beobachten und die Zaunsituation individuell anzupassen, um Verletzungsrisiken zu vermeiden.
Die „Buddy“-Strategie für erfolgreiche Integration
Freundschaften fördern
Genau wie Kinder sich leichter in neue Schulklassen einfügen, wenn sie bereits einen Freund haben, funktioniert auch die Pferdeintegration oft besser über Einzelfreundschaften. Nachdem sich die Herde und der Neuankömmling über den Zaun aneinander gewöhnt haben, wird ein geeigneter „Buddy“ aus der bestehenden Gruppe ausgewählt.
Das sollte ein gute integriertes, souveränes und soziales Pferd sein. Wenn man seine Gruppen beobachtet, dann stellt man schnell fest, wer der „Streitschlichter“ ist – dieses Pferd ist der perfekte „Buddy“. Aggressive oder unsichere Pferde sind völlig ungeeignet, da sie den Neuankömmling verschrecken oder verletzen könnten. Auch das rangniedrigste Pferd ist keine gute Wahl, da solche Tiere oft selbst unsicher sind und Neuankömmlinge als Bedrohung wahrnehmen.
Schrittweise Erweiterung
Wenn das neue Pferd und sein „Buddy“ friedlich zusammen grasen oder gemeinsam an der Heuraufe stehen, wird das nächste verträgliche Herdenmitglied hinzugefügt. Dieser Prozess wird fortgesetzt, bis die komplette Herde vereint ist. Wichtig dabei: Die anderen Pferde werden zum Neuen gebracht, nicht umgekehrt.
Platz und Fluchtmöglichkeiten sind für Pferde überlebenswichtig
Ausreichend Raum schaffen
Erfolgreiche Integration braucht genügend Platz. Pferde müssen vor aggressiven Artgenossen fliehen können, gleichzeitig aber auch den Respektabstand zu Tieren einhalten, mit denen sie noch nicht befreundet sind. Diese natürlichen Verhaltensmuster sind Teil der Rangordnungsbildung und sollten nicht unterdrückt werden. Enge Winterausläufe sind daher immer deutlich problematischer für die Integration als weitläufige Weiden. Das sollte sowohl beim Anlegen der Winterausläufe als auch bei Wechseln in der Herde beachtet werden. Gerade sozial schwierige Pferde profitieren oft davon, wenn man sie parallel zu der Gruppe – durch den Zaun getrennt – stehen lässt, bis die Weidesaison beginnt und erst dann die Integration startet.
Sichere Umgebung gestalten
Paddocks und Weiden sollten abgerundete Ecken haben, damit kein Pferd in die Enge gedrängt werden kann. Man kann hier provisorisch E-Zaun Litze spannen, um Ecken „abzurunden“. Unterstände und Stallgebäude brauchen ohnehin immer mindestens zwei Ausgänge, sodass kein Pferd von aggressiveren Herdenmitgliedern eingekesselt oder die Tür zum Unterstand durch ein Pferd für alle anderen blockiert werden kann.
Strategisches Ressourcen-Management reduziert Konflikte
Drei Phasen der Integration
Der Umgang mit Futter, Wasser und Unterstand entscheidet oft über Erfolg oder Misserfolg der Integration. Pferde können diese Ressourcen aggressiv verteidigen oder sie zum Beziehungsaufbau nutzen.
Phase 1 – Zaunkontakt: Futter und Wasser werden beidseits des Trennzauns so platziert, dass beide Seiten nah beieinander fressen können, ohne dass Konflikte entstehen. Das fördert positive Assoziationen. Insbesondere Fressen ist auch bei Pferden eine wichtige soziale Interaktion. Wenn das neue Pferd von Anfang an mit der Herde aus derselben Heuraufe frisst, verläuft die Zusammenführung erfahrungsgemäß viel friedlicher. Kann man die Heuraufenicht so stellen, dass sie von beiden Seiten aus zugänglich ist, kann man auch loses Heu diesseits und jenseits vom Zaun auf den Boden legen. Da Pferde loses Heu lieber fressen als aus Heunetzen, wird sich schnell eine kleine Gemeinschaft am geteilten Heuhaufen bilden.
Phase 2 – Erste gemeinsame Stunden: Bei der ersten direkten Begegnung werden alle konfliktträchtigen Ressourcen entfernt. Dazu gehören vor allem Futtereimer, aber auch Menschen. Denn wichtige Ressourcen werden von vielen Pferden vehement verteidigt, was zu Konflikten und schweren Verletzungen führen kann. Gerade Pferdebesitzer sollten sich fernhalten, da sie selbst als „Ressource“ wahrgenommen werden können.
Phase 3 – Dauerhafte Integration: Nach den kritischen ersten Stunden werden Heunetze und Wasserbottiche so verteilt, dass jedes Pferd jederzeit ohne Stress fressen und trinken kann. Ausreichend große Unterstände oder zusätzlicher Wetterschutz in Form von Lebendhecken, Totholhecken oder einem Stallzelt verhindern Gedränge und Konflikte.

Zeit und Geduld sind der Schlüssel für eine gute Herdenintegration
Natürliche Prozesse respektieren
Die Integration lässt sich nicht beschleunigen. Freundlichere Verhaltensweisen entwickeln sich meist innerhalb weniger Wochen, aber die vollständige Eingliederung in die Rangordnung dauert etwa zwei bis drei Monate. Echte Freundschaften erkennt man daran, dass Pferde besonders nah beieinander stehen und sich gegenseitig in den persönlichen Bereich lassen. Der Aufbau solcher echter Freundschaften braucht Zeit und nicht jedes Pferd wird einen besten Freund finden.
Warnsignale erkennen
In den ersten 30 Minuten nach der direkten Zusammenführung sollte intensive Beobachtung stattfinden, da sich ernste Probleme schnell zeigen. Danach reichen regelmäßige Kontrollen alle paar Stunden. Bedenklich wird es, wenn Pferde dauerhaft von Futter- und Wasserstellen ferngehalten, ständig weggejagd oder übermäßig aggressiv behandelt werden. Auch körperliche Veränderungen in den Tagen nach der Integration wie Gewichtsverlust, tiefe Verletzungen oder Schmerzgesicht (ein möglicher Hinweis auf Magengeschwüre) erfordern sofortiges Eingreifen. In solchen Fällen muss das betroffene Pferd wieder separiert und die Integration von vorn begonnen werden.
Hauspferde sind oft schwieriger zu sozialisieren als Wildpferde
Unnatürliche Bedingungen
Wildpferde leben seit Millionen von Jahren in stabilen Gruppen mit natürlichen Zu- und Abgängen. Sie suchen einander aus und haben immer die Möglichkeit, die Gruppe zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen, wenn es für sie in der Konstellation nicht passt. Unsere Hauspferde hingegen werden in künstlich zusammengestellten Herden gehalten, oft auf begrenztem Raum und mit unterschiedlichen sozialen Vorerfahrungen. Dazu kommt, dass die verschiedenen Rassen, die in der Hand des Menschen entstanden sind, unterschiedliche „Dialekte“ in ihrer Körpersprache sprechen. Dadurch kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Pferde sind – entgegen landläufiger Meinung – keine „Rassisten“. Was in rassereinen Gruppen oft so wahrgenommen wird, wenn man ein rassefremdes Pferd dazu stellt, sind schlicht die unterschiedlichen Sprachen, welche die Pferderassen sprechen. Diese unnatürlichen Bedingungen erschweren die Integration erheblich.
Optimierung der Bedingungen
Obwohl die Wissenschaft noch nicht alle Unterschiede zwischen natürlichen und vonMenschen zusammengestellten Herden versteht, können die beschriebenen, bewährtenPraktiken die Erfolgschancen deutlich verbessern. Dabei geht es hauptsächlich darum, natürliche Verhaltensmuster zu respektieren und optimale Bedingungen zu schaffen.
Sicherheit durch Planung
Die sichere Integration eines neuen Pferdes in eine bestehende Herde ist möglich, erfordert aber sorgfältige Planung, Geduld und kontinuierliche Beobachtung. Wer die bewährten Schritte befolgt und auf die Bedürfnisse aller beteiligten Pferde achtet, kann das Verletzungsrisiko minimieren und langfristig harmonische Herdenbeziehungen schaffen. Der Schlüssel liegt darin, natürliche Verhaltensweisen zu verstehen und zu respektieren, anstatt zu hoffen, dass sich die Probleme von selbst lösen, weil „die Pferde das schon irgendwie unter sich ausmachen“. Mit der richtigen Herangehensweise können auch Hauspferde das erreichen, was ihre wilden Verwandten seit Jahrmillionen praktizieren: ein friedliches, soziales Zusammenleben in einer stabilen Herde.
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