Kernpunkte im Überblick:
- Nur wenige Verhaltensweisen sind tatsächlich angeboren
- Die meisten „natürlichen“ Reaktionen auf Reiterhilfen sind erlernt
- Angeborenes Verhalten dient dem Überleben
- Pferde lernen nicht „intuitiv“, sondern durch Konditionierung
- Die Bezeichnung „natürliche Hilfen“ ist irreführend
Was ist wirklich natürlich?
„Das ist doch ganz natürlich für ein Pferd!“ – Diesen Satz hört man oft im Reitstall, besonders wenn es um die Reaktionen des Pferdes auf reiterliche Hilfen geht. Doch was ist tatsächlich natürlich, und was haben unsere Pferde im Laufe ihrer Ausbildung gelernt? Die Antwort überrascht viele: Fast alle Verhaltensweisen, die wir im Umgang mit dem Pferd nutzen, sind das Ergebnis von Lernprozessen – auch wenn sie uns noch so selbstverständlich erscheinen.
Die wirklich angeborenen Verhaltensweisen
Tatsächlich angeborenes Verhalten beim Pferd dient in erster Linie dem Überleben. Dazu gehören:
- Fluchtreflexe bei plötzlichen Reizen
- Saugreflex bei Fohlen
- Instinktives Fressverhalten
- Fortpflanzungsverhalten
- Thermoregulation (Zittern, Schwitzen)
Diese Verhaltensweisen zeigen Pferde von Geburt an, ohne sie lernen zu müssen. Sie sind in ihrem genetischen Programm fest verankert und für das Überleben der Art essentiell.
Der Mythos der „natürlichen“ Reiterhilfen
Ein weit verbreiteter Irrtum ist die Annahme, dass Pferde „natürlich“ auf bestimmte reiterliche Einwirkungen reagieren. Beispiele für solche Missverständnisse sind:
Die Gewichtshilfe
„Wenn ich mich nach rechts lehne, geht das Pferd natürlich nach rechts.“ – Diese Annahme ist falsch. In der Natur gibt es keine Situation, in der ein Gewicht auf dem Rücken des Pferdes eine Richtungsänderung signalisieren würde. Diese Reaktion ist das Ergebnis sorgfältiger Konditionierung. Entsprechend kann man ein Pferd entweder darauf konditionieren, der Gewichtsverlagerung auszuweichen oder ihr zu folgen.
Der Schenkeldruck
„Ein Pferd weicht natürlich dem Druck aus.“ – Auch dies ist nur teilweise richtig. Während Pferde tatsächlich eine natürliche Tendenz haben, unangenehmen Reizen auszuweichen, ist die spezifische Reaktion auf den Schenkeldruck (Vorwärts- oder Seitwärtsbewegung) erlernt. So kennen wir alle auch das Prinzip „Druck erzeugt Gegendruck“ – was sicher jeder schon einmal erlebt hat, der ein Pferd beiseite schieben wollte. Dem Druck auszuweichen ist erlerntes Verhalten.
Die Zügelhilfen
„Das Pferd folgt in der Biegung der Begrenzung des äußeren Zügels.“ – Solche vermeintlich logischen Reaktionen sind ebenfalls das Resultat von Training, nicht von natürlichem Verhalten. So wird ein Pferd, das zum ersten Mal über Zügel gelenkt werden soll, nur um die Kurve gehen, wenn es versucht, dem Zug des inneren Zügels zu entgehen, also diesem Zug erst mit dem Kopf und dann mit dem Körper folgt. Im Lauf der Zeit lernt es dann, auf subtilere Signale zu reagieren.
Der Lernprozess hinter den „natürlichen“ Hilfen
Was wir als „natürliche“ Reaktionen wahrnehmen, sind also in Wirklichkeit konditionierte Verhaltensweisen. Der Lernprozess läuft dabei meist über negative Verstärkung:
- Ein Druck (Schenkel, Zügel, Gewicht) erzeugt zunächst Unbehagen
- Das Pferd probiert verschiedene Reaktionen aus
- Die gewünschte Reaktion führt zum Nachlassen des Drucks
- Diese Reaktion wird in Zukunft häufiger gezeigt
Mit der Zeit werden die Hilfen immer feiner, und die ursprüngliche Lernkette ist kaum noch erkennbar. Was übrig bleibt, erscheint uns dann als „natürliche“ Reaktion.
Warum diese Unterscheidung wichtig ist
Das Verständnis des Unterschieds zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten ist aus mehreren Gründen wichtig:
Realistische Erwartungen
Wenn wir verstehen, dass Reaktionen auf Hilfen erlernt werden müssen, können wir realistischere Erwartungen an unsere Pferde stellen und ihnen die nötige Zeit zum Lernen geben.
Besseres Training
Mit dem Wissen um Lernprozesse können wir das Training systematischer und pferdegerechter gestalten, anstatt uns auf vermeintlich „natürliche“ Reaktionen zu verlassen.
Fehlererkennung
Wenn ein Pferd nicht wie gewünscht reagiert, suchen wir die Ursache im Trainingsprozess und nicht in einem vermeintlichen „natürlichen Ungehorsam“.
Die Bedeutung für die praktische Arbeit
Diese Erkenntnis hat wichtige Konsequenzen für den täglichen Umgang mit Pferden:
- Jedes Signal muss sorgfältig aufgebaut werden
- Reaktionen müssen schrittweise konditioniert werden
- Regelmäßige Wiederholung ist notwendig
- Unterschiedliche Pferde können unterschiedlich lange brauchen
- Stress oder Angst können erlernte Reaktionen überlagern
Der Weg zu echter Partnerschaft
Das Verständnis, dass die meisten Interaktionen zwischen Mensch und Pferd auf Lernprozessen basieren, macht uns zu besseren Trainern. Statt uns auf vermeintlich natürliche Reaktionen zu verlassen, können wir:
- Systematischer trainieren
- Geduldiger sein
- Lernprozesse besser verstehen
- Probleme effektiver lösen
- Eine ehrlichere Kommunikation aufbauen
Diese Erkenntnis mindert nicht die Besonderheit der Mensch-Pferd-Beziehung – im Gegenteil. Sie zeigt, zu welch erstaunlichen Lernleistungen unsere Pferde fähig sind und wie wichtig unsere Verantwortung als Lehrer ist.
Mehr Informationen zum Thema Lernverhalten gibt es auf unserer Themenseite: Verhalten & Verhaltensauffälligkeiten