Sinnvoll lernen

Sinnvoll lernen

© Gabor und Zimmer (2025): „Sinnvoll lernen“ Foto: Lisa Rädlein

Grundlagen, Motivation und die gemeinsame Lernzone von Mensch und Pferd

Lernen begleitet uns und unsere Pferde ein Leben lang. Doch Lernen ist weit mehr als das bloße Abrufen von Konditionierungsmechanismen. Wenn wir sinnvoll lernen wollen – gemeinsam mit unserem Pferd – dann bedeutet das, Beziehung zu gestalten, Vertrauen aufzubauen und die Komfortzone behutsam, aber stetig zu erweitern. Lernen heißt, neue Erfahrungen zu verarbeiten, aus Fehlern zu wachsen und Herausforderungen als Chancen zu begreifen.

Die zentrale Frage lautet also nicht: Wie bringe ich meinem Pferd etwas bei? Sondern: Wie können wir gemeinsam einen Raum schaffen, in dem Lernen Freude macht, Sinn ergibt und nachhaltig wirkt? Genau in diesem Gedanken steckt das Herzstück pferdegerechten Lernens: Es ist ein Prozess, der nicht einseitig vom Menschen ausgeht, sondern ein partnerschaftlicher Dialog, in dem beide Beteiligten wachsen dürfen.

Was Lernen bedeutet

Lernen beschreibt die Fähigkeit, das eigene Verhalten aufgrund von Erfahrungen zu verändern. Pferde wie Menschen sind in diesem Prozess nicht bloß Reiz-Reaktions-Maschinen, sondern hochsensible, kognitive Wesen. Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Pferde in der Lage sind, Situationen zu vergleichen, zu unterscheiden und sogar in gewissem Maß zu abstrahieren. Damit wird klar: Sie lernen nicht nur automatisch, sondern können ihr Verhalten flexibel anpassen.

Man unterscheidet verschiedene Lernformen:

  • Habituation (Gewöhnung): Wiederholte Reize verlieren an Bedeutung – ein Pferd erschrickt weniger, wenn es denselben Stimulus öfter erlebt. Ein klassisches Beispiel ist die Gewöhnung an flatternde Plastiktüten am Reitplatzrand.
  • Sensitivierung: Ein Reiz löst mit der Zeit eine stärkere Reaktion aus. So kann ein Pferd immer nervöser werden, wenn es wiederholt laute Geräusche hört, die es nicht einordnen kann. Im positiven ist die Sensitivierung die Grundlage der Verfeinerung unserer Hilfen.
  • Klassische Konditionierung: Ein neutraler Reiz (z. B. ein Signalton oder das Schnalzen) wird mit einer Bedeutung verknüpft (z. B. Futter oder das Antraben). Pferde erkennen dabei sehr schnell Muster und Zusammenhänge.
  • Operante Konditionierung: Verhalten wird durch Konsequenzen verstärkt oder abgeschwächt. Positive Verstärkung (z. B. Futter- oder Stimmlob) fördert ein Verhalten. Negative Verstärkung bedeutet, dass ein unangenehmer Reiz nachlässt, sobald das Pferd das gewünschte Verhalten zeigt (z. B. Druck der Wade, der beim Losgehen nachlässt).

Diese Grundlagen sind wichtig – doch sie erklären nur wie Lernen funktioniert. Für das sinnvolle Lernen mit unserem Pferd müssen wir auch die Fragen nach dem Warum und Wozu stellen: Warum soll das Pferd etwas lernen, welchen Sinn ergibt es für seine Entwicklung, und wie können wir Aufgaben so gestalten, dass sie zu mehr Sicherheit, Vertrauen und Motivation beitragen?

Motivation als Schlüssel

Ohne Motivation gibt es kein Lernen. Pferde sind neugierige, explorative Tiere, die aus eigenem Antrieb heraus lernen können, wenn sie Sinn in einer Aufgabe erkennen. Motivation bedeutet hier nicht bloß Lust auf Futter, sondern auch Freude an Bewegung, Neugierde auf Neues oder das Gefühl, gemeinsam mit dem Menschen eine Herausforderung zu meistern.

Das Belohnungssystem spielt dabei eine zentrale Rolle. Positive Verstärkung – sei es durch Futter, ein Lobwort oder Entspannung – aktiviert körpereigene Botenstoffe wie Dopamin oder Serotonin, die Freude, Erwartung aber auch (im Falle des Serotonin) Sicherheit hervorrufen. Solche positiven Gefühle verstärken die Bindung zwischen Pferd und Mensch, weil das Tier uns mit etwas Angenehmem verknüpft. Pferde erinnern sich langfristig an solche Erfahrungen und suchen aktiv die erneute Zusammenarbeit.

Doch Vorsicht: Motivation darf nicht mit Zwang verwechselt werden. Ein Pferd, das nur deshalb reagiert, weil es Druck entgehen möchte, lernt kurzfristig, aber nicht nachhaltig. Zwang erzeugt Stress, und Stress blockiert die Lernfähigkeit. Erst wenn das Pferd sich als selbstwirksam erlebt – also versteht, dass sein Handeln das Ergebnis beeinflusst – entsteht echtes Lernen. Selbstwirksamkeit stärkt nicht nur das Vertrauen, sondern auch die Bereitschaft, Neues zu wagen.

Ein Beispiel: Wenn ein Pferd beim Target-Training begreift, dass es mit einem Nasenstupser an das Target sofort eine Belohnung auslösen kann, steigert dies seine Motivation erheblich. Es wird aktiver, experimentierfreudiger und beginnt, sich Aufgaben eigenständig zu erschließen. Ebenso kann die negative Verstärkung sinnvoll eingesetzt werden: Gibt das Pferd dem leichten Druck der Wade nach und geht einen Schritt seitwärts, oder weicht in der Bodenarbeit dem Fokus des Menschen – so hört der Druck sofort auf. Das Pferd lernt dadurch, dass es mit seinem Verhalten unangenehme Reize beenden kann – ein wichtiges Prinzip, das, fein angewendet, ebenso zur Motivation und zu mehr Klarheit im gemeinsamen Lernen beiträgt.

Besondere Lernaufgaben in dem Alltag einzubauen, fördern die Neugier und die Motivation. Quelle: Gabor (2020): „Mein Pferd kanns – Lerntraining für Pferde“ Foto: Lisa Rädlein

Die Zone der nächsten Entwicklung

Ein zentrales Konzept des sinnvollen Lernens ist die Zone der nächsten Entwicklung. Sie beschreibt den Bereich, in dem Pferd und Mensch gefordert, aber nicht überfordert sind. Diese Balance ist entscheidend für nachhaltigen Lernfortschritt.

  • Komfortzone: Hier fühlt sich das Pferd sicher, doch es findet kaum Fortschritt statt. Übungen innerhalb dieser Zone sind wichtig für Bestätigung und Sicherheit, sie allein führen jedoch nicht zur Weiterentwicklung.
  • Lernzone: Hier erlebt das Pferd Neues, bleibt aber emotional stabil. Nur hier findet wirkliches Wachstum statt. Typisch sind Aufgaben, die eine kleine Herausforderung darstellen, aber mit Unterstützung und positiver Erfahrung gelöst werden können.
  • Überforderungszone: Hier kippt die Situation. Stress, Angst oder Frustration blockieren das Lernen. Das Pferd reagiert mit Flucht oder Verweigerung. Eine Rückkehr in die Lernzone ist dann unbedingt notwendig.

Als TrainerIn oder ReiterIn ist es unsere Aufgabe, die Lernzone bewusst aufzusuchen. Dazu gehört, sensibel auf Körpersprache und Stresssignale zu achten – erhöhter Puls, angespannte Mimik, hektische Bewegungen oder Schweifschlagen können Hinweise sein. Ein Pferd, das sich unsicher fühlt, braucht Zeit und Vertrauen, bevor es wieder aufnahmefähig ist. Unsere Aufgabe ist es, den Weg vom sicheren Bekannten zum herausfordernden Neuen so zu gestalten, dass Neugier und Selbstwirksamkeit stärker ist als Angst.

Pferd guckt neugierig mit aufgewölbtem Hals
Unterschiedliche Sinneswahrnehmungen im Lernumfeld zu nutzen, fördert Lernen auf verschiedenen Ebenen. Quelle: Gabor und Zimmer (2025): „Sinnvoll lernen“ Foto: Lisa Rädlein

Mit allen Sinnen lernen

Pferde sind Meister der Wahrnehmung. Ihre Welt unterscheidet sich stark von der unseren – und wenn wir sinnvoll trainieren wollen, müssen wir diese Unterschiede respektieren und nutzen.

  • Sehen: Pferde haben ein breites Gesichtsfeld von fast 340 Grad, aber eine geringere Sehschärfe. Bewegungen nehmen sie sehr gut wahr, Details weniger. Daher kann eine flatternde Jacke am Rand des Platzes für sie viel bedrohlicher wirken als für uns. Ein bewusst gestaltetes visuelles Umfeld schafft Sicherheit.
  • Hören: Pferde hören Frequenzen, die für uns nicht wahrnehmbar sind. Sie reagieren sensibel auf Tonlage und Rhythmus. Eine ruhige, gleichmäßige Stimme beruhigt, während ein scharfes Kommando Stress auslösen kann. Die eigene Stimme ist deshalb ein wichtiges Trainingsinstrument.
  • Riechen: Gerüche sind für Pferde bedeutsam, etwa zur sozialen Orientierung oder beim Erkennen vertrauter Orte. Neue Gegenstände im Stall oder auf dem Platz werden oft zuerst beschnuppert, bevor sich das Pferd entspannt. Wir können das nutzen, indem wir Pferden Zeit geben, Neues in Ruhe zu erkunden.
  • Tasten: Pferde reagieren fein auf Berührungen. Schon kleinste Veränderungen im Druck der Hand oder des Beins werden wahrgenommen. Das bedeutet: Je feiner wir unsere Hilfen einsetzen, desto klarer kommunizieren wir.
  • Schmecken: Der Geschmackssinn hilft Pferden nicht nur bei der Futterwahl, sondern spielt auch im Lernprozess eine Rolle. Positive Verknüpfungen über schmackhafte Belohnungen – sei es ein Stück Möhre oder ein speziell gewähltes Futtermittel – können das Training effektiv unterstützen. Pferde unterscheiden zwischen süß, salzig, sauer und bitter und zeigen klare Vorlieben, die individuell verschieden sein können.
  • Propriozeption: Pferde spüren ihren Körper im Raum über Muskeln, Sehnen und Gelenke. Übungen auf wechselnden Untergründen oder mit Balance-Elementen fördern dieses Körperbewusstsein und machen das Pferd beweglicher, sicherer und lernbereiter.

Ein Training, das verschiedene Sinneskanäle anspricht, ist abwechslungsreicher, fördert die Gedächtnisleistung und stärkt die Bindung. Wenn wir den Platz bewusst abwechslungsreich gestalten, verschiedene Untergründe nutzen oder akustische Signale einbauen, aktivieren wir das ganze Wahrnehmungssystem unseres Pferdes.

Beziehung und Vertrauen als Basis

Sinnvolles Lernen geschieht nicht im Vakuum. Die Qualität der Beziehung zwischen Mensch und Pferd ist ausschlaggebend. Studien zeigen, dass positive Interaktionen – etwa spielerisches Training, freundliche Stimme oder Belohnungen – nicht nur das Lernen verbessern, sondern auch langfristig das Vertrauen des Pferdes in den Menschen stärken. Pferde erinnern sich an positive Erfahrungen über Monate hinweg und übertragen diese sogar auf neue Personen.

Jede Trainingseinheit ist Teil eines größeren Mosaiks. Jede Begegnung prägt die Erwartungen des Pferdes an die nächste Interaktion. Hierin liegt eine große Verantwortung: Negative Erfahrungen (Überforderung, Strafen, Inkonsequenz) können das Vertrauen nachhaltig schwächen. Ein Pferd, das mehrfach erlebt hat, dass es in schwierigen Situationen allein gelassen wird, wird sich schwerer öffnen als eines, das Verlässlichkeit und Sicherheit erfährt.

Vertrauen aufzubauen braucht Zeit, Konsequenz und Empathie. Pferde nehmen unsere Emotionen wahr und spiegeln sie wider. Wer selbst ungeduldig oder unsicher ist, wird dies im Verhalten des Pferdes gespiegelt finden. Umgekehrt bedeutet Gelassenheit auf unserer Seite oft auch mehr Ruhe beim Pferd.

Praktische Ansätze für sinnvolles Lernen

  • Kleine Schritte wählen: Große Lernziele sollten in kleine Teilabschnitte zerlegt werden. So kann das Pferd Erfolge erleben und wird nicht überfordert. Beispiel: Das Verladen üben wir nicht in einem Schritt, sondern beginnen mit Übungen die Durchlässigkeit und Aufmerksamkeit fördern, dann dem Annähern an den Anhänger, bevor ein Huf die Rampe betritt.
  • Variabilität einbauen: Abwechslung hält die Motivation aufrecht und stärkt das Problemlöseverhalten. Unterschiedliche Aufgaben, wechselnde Umgebung oder neue Materialien verhindern Monotonie. So bleibt das Pferd geistig flexibel und lernt, Bekanntes in neuen Situationen anzuwenden.
  • Sinnvolles verstärken: Gutes Verhalten sollte sofort und klar belohnt werden. Damit wird die Verknüpfung eindeutig. Ob Futter, Stimme oder Reduzieren der Signalintensität: Entscheidend ist, dass die Belohnung für das Pferd relevant und angenehm ist.
  • Pausen einplanen: Lernen geschieht nicht nur in der aktiven Trainingszeit. Pausen sind wichtig, damit das Gehirn Erlebtes verarbeiten kann. Schon wenige Minuten Ruhepause nach einer neuen Übung genügen, damit das Gelernte besser im Gedächtnis bleibt.
  • Selbstwirksamkeit fördern: Übungen, bei denen das Pferd Initiative zeigen darf, stärken sein Vertrauen und seine Motivation. Ein Beispiel ist das Erarbeiten von kleinen Übungen wie dem Absenken des Kopfes oder dem Folgen eines Targets. Das Pferd erlebt, dass es selbst Einfluss nehmen kann – und das stärkt seine Freude am Lernen.

Fazit: Lernen als gemeinsame Reise

„Sinnvoll lernen“ heißt, über reines Konditionieren hinauszugehen. Es bedeutet, Pferde in ihrer Individualität wahrzunehmen, ihre Wahrnehmung zu berücksichtigen und gemeinsam eine Lernzone zu betreten, die Entwicklung ermöglicht – für beide Seiten. Es geht um mehr als Trainingstechniken: Es geht um Beziehung, Respekt und Freude am Miteinander.

Lernen ist Beziehung. Und nur dort, wo Vertrauen, Freude und Selbstwirksamkeit zusammentreffen, entsteht das, was wir uns alle wünschen: ein Pferd, das nicht nur „funktioniert“, sondern mit uns gemeinsam wächst und uns als echten Partner erlebt.

Vivian Gabor
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